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Kultur: Ein weites Feld

Man fühlt nur, was man weiß: Das Berliner Holocaust-Mahnmal ist ein autonomes Kunstwerk

Als einen Ort, „wo die Deutschen gerne hingehen“, wünschte sich Gerhard Schröder das Holocaust-Mahnmal Ende 1998, als dessen Realisierung noch nicht durch das Votum des Bundestages vom Juni 1999 abgesichert war. Der Bundeskanzler konnte sich diese flapsige Bemerkung erlauben, weil seine eigene Biografie als Kind eines kriegsgefallenen Wehrmacht-Soldaten ihn des Verdachts enthob, die NS-Verbrechen kleinreden zu wollen. Zugleich aber – es wird ihm kaum bewusst gewesen sein – sprach Schröder damit ein Dilemma aller Denkmalsarchitektur seit dem Ersten Welktkrieg an.

Das 20. Jahrhundert, so hieß es stets, sei im Unterschied zum denkmalseligen 19. ein Säkulum ohne Denkmäler. Versteht man darunter gereckte Helden oder klagende Mütter, mit denen sich das Zeitalter der Nationalstaaten schmückte, so trifft diese Beobachtung zweifellos zu. Doch gegen Ende des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. hat sich geradezu ein Denkmalskult entwickelt. Und fast immer handelt es sich um Denkmäler für Leid und Verbrechen, für Tote, Gefallene und Ermordete.

An einen solchen Ort gerne gehen zu wollen, scheint als Forderung frivol. Und doch: Wenn am heutigen Dienstag das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ in einem der prägenden Festakte des wiedervereinten Deutschland eingeweiht wird, könnte sich bei einem Gutteil der Besucher das Schröder’sche Gefühl einstellen. Denn das Herumwandern zwischen den Betonstelen irritiert durchaus nicht sonderlich. Durch die Geradlinigkeit der Wege ist jederzeit Blickkontakt zur Randbebauung gewährleistet. Allenfalls die Welligkeit des sanft abfallenden Bodens beansprucht Aufmerksamkeit.

Nun kann es eine Vorabausrichtung von Gedanken, gar Gefühlen in einer pluralen Gesellschaft nicht geben. Der Architekt des Mahnmals, der New Yorker Peter Eisenman, hatte genau diese Grundsituation im Blick, als er die Frage nach der Bedeutung seines Entwurfs zuletzt stets mit dem Wort beschied: „nichts“. Was so viel heißen soll wie: alles, was der Betrachter in ihm sehen will. Als „ein im besten Sinne offenes Kunstwerk“ bezeichnete es gestern auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, namens des Bundestages Bauherr des Denkmals: „Es zwingt niemanden eine Interpretation auf – es lädt ein.“

Vor über fünfzig Jahren, als die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft sich so unendlich schwer tat mit der Erinnerung an das eben erst versiegte Grauen, prägte der konservative Kulturphilosoph Arnold Gehlen das Wort von der „Kommentarbedürftigkeit“ der modernen Kunst. Sie sei dem unmittelbaren Verständnis nicht mehr zugänglich. Um wie viel mehr musste dies für Denkmale gelten, deren Sinn allein in der Eindeutigkeit und Verständlichkeit ihrer Aussage liegen kann!

Auf die unterschiedlichsten Weisen haben Denk- und Mahnmale seither an den NS-Völkermord zu erinnern versucht, und ebenso wie diese ihre Bestimmung bewahren sie die Zeugenschaft an den Kontext ihrer Entstehung. Dem Berliner Denkmal wird es nicht anders ergehen. Das Betonstelenfeld ist auch ein Zeugnis seiner umkämpften und spät erst von Einmütigkeit gekennzeichneten Entstehungsgeschichte in den 15 Jahren des vereinten Deutschland (siehe Seite 2).

Zu dieser Geschichte zählen insbesondere seine Lage und seine Größe. Es gehörte zu den – teils stillschweigend vorausgesetzten, teils offen artikulierten – Grundforderungen der zunächst privaten Denkmalsinitiative, das Memorial in unübersehbarem Umfang und an denkbar zentraler Stelle der alten und neuen deutschen Hauptstadt zu platzieren. Die damit angedeutete Funktion als eine Art Gegengewicht gegen ein Anfang der Neunzigerjahre so gern beschworenes Wiedererstarken deutscher Großmannssucht darf als hinfällig betrachtet werden. Solche Befürchtungen bewahrheiteten sich offenkundig nicht. Da mag die bundesdeutsche Außenpolitik, die ironischerweise unter der Formel „Nie wieder Auschwitz“ erstmals wieder deutsche Soldaten in den Krieg schickte, mittlerweile noch so gegenwartsbezogen daherkommen. Dass als Baugrund ein Stück der einstigen Ministergärten gewählt wurde, das nicht unmittelbar einen Täterort bezeichnet, ist ein weiteres, verblassendes Detail dieser Entstehungsgeschichte. Das dem Gestus der schlussendlichen Überwindung des NS–Regimes einzig angemessene Grundstück der ehemaligen Reichskanzlei wurde nämlich übergangen, weil die späte DDR dort Promi-Wohnbauten hatte errichten lassen, die die Politik nach 1990 nicht abzureißen wagte.

Anders verhält es sich mit der physischen Ausdehnung des Mahnmals. Wiewohl die Anzahl der irreführend „Stelen“ genannten Betonquader von anfänglich 4000 („Eisenman I“) auf schließlich 2711 („Eisenman II“) bei entsprechender Verkleinerung der Fläche vermindert wurde, vermittelt das Mahnmal doch als ersten Eindruck den seiner Größe.

Von seiner Bedeutung jedoch verrät es – wie Eisenman es will –: nichts. Oder jedenfalls nur so viel, wie das Vorwissen seinen Besuchern einflüstert. Darum setzte Michael Naumann, der damalige Kulturstaatsminister Schröders, den unterirdischen „Ort der Information“ durch, um die – im Sinne eines traditionellen Denkmals – fehlende Widmung durch eine an die Empathie der Besucher rührende Inszenierung von Faktenwissen auszugleichen. Doch tun sich Probleme auf. Einerseits unterläuft das Info-Zentrum zu Recht die einseitige, nur aus der Entstehungszeit verständliche Widmung des Denkmals allein an die jüdischen Opfer des Völkermords, indem mehrfach auf andere Opfergruppen wie die Sinti und Roma hingewiesen wird. Andererseits fällt ins Auge, dass hier, am Denkmal „für die ermordeten Juden Europas“, vom europäischen Antisemitismus nur sehr verknappt zu lesen ist. Gewiss, dieser latente, in manchen Ländern auch manifeste Antisemitismus wurde von den deutschen Rasse-Kriegern überhaupt erst entfesselt. Doch deutlicher müsste hervortreten, dass es eine weit reichende Kollaboration mit all ihren furchtbaren Folgen gegeben hat, die von Frankreich bis Litauen oder Ungarn das Ausmaß der Verbrechen befördert hat. Nach dem Besuch dieses unter das Denkmal geschobenen Info-Zentrums kann es jedenfalls keinen Zweifel mehr über den „Sinn“ des Mahnmals geben. Wenn jedoch der Berliner Kunsthistoriker Hans-Ernst Mittig – Alt-68er und selbst der Generation der Kriegskinder zugehörig – polemisch zuspitzt, Eisenmans „Denkmal könnte bei anderer sprachlicher Zusatzinformation dem Untergang der 6. Armee bei Stalingrad gewidmet sein“, trifft er damit die Uneindeutigkeit des Eisenman’schen Entwurfs.

Uneindeutigkeit jedoch, die Assoziationen weckt: zuallererst jene an ein Gräberfeld – die der Architekt ursprünglich gelten ließ und erst später zurückwies –, darüber hinaus an eine Stein gewordene Natur, etwa an ein petrifiziertes Weizenfeld. Dies aber sind Assoziationen, derer sich die Denkmalsarchitektur im 20. Jahrhundert oft bediente, als mit dem anonymen Massensterben im Ersten Weltkrieg erstmals eine Erfahrung jenes mechanisch-industrialisierten Tötens aufstieg, das der NS-Völkermord dann vorsätzlich und – die furchtbarste Dimension – um seiner selbst willen ins Werk setzte. Eisenman hegte solche Assoziationen offenkundig nie, aber ebensowenig hatte er die konkrete Vergegenwärtigung des verbrecherischen Geschehens im Auge.

„Bei diesem Denkmal gibt es kein Ziel, keinen Zweck, keine Mühen des Hinein- oder Hinaustretens. Die Dauer einer individuellen Erfahrung des Mahnmals erlaubt kein Verstehen, weil Verstehen unmöglich ist“, schreibt er im Katalog seiner derzeitigen Wiener Werkschau. „In diesem Kontext gibt es keineNostalgie, keine Erinnerung an die Vergangenheit, sondern nur die lebendige Erinnerung der individuellen Erfahrung.“

Deutlicher könnte der Gegensatz zu dem auf Information und zugleich Emotion angelegten „Ort der Information“ nicht ausgesprochen sein. Mit ihm wird Eisenmans Mahnmal zum Zwitterwesen. Das Stelenfeld selbst steht in der Tradition des abstrakten, autonomen Kunstwerks, wie es insbesondere in der Skulptur der Minimal Art zu herausragenden Formulierungen gefunden hat.

Eisenman hatte anfänglich mit dem Bildhauer Richard Serra zusammengearbeitet, ehe sich dieser, jedem Kompromiss widerstrebend, zurückzog. Serra lieferte in seinen gebogenen, überhängenden, den Blick auf den Ausgang verstellenden Stahlskulpturen Modelle eben jener Körpererfahrungen, die im Holocaust-Mahnmal intendiert sind: die der Übermächtigung, Vereinzelung und Orientierungslosigkeit. Es gehört zu den Paradoxien der zeitgenössischen Kunst – der Serra ebenso wie Bruce Nauman mit seinen Installationen zugehören –, dass ein höchst rationaler Entwurf zur Verlusterfahrung von Rationalität führt.

Hier darf an den Begriff des Erhabenen erinnert werden. Mit diesem verwoben ist der des Schreckens. Schiller, dessen 200. Todestag gestern begangen wurden, entwickelt in seiner Ästhetik, auf Kant fußend, den Gedanken eines lustvollen Schauers. Der Schauer beim Blick auf das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ allerdings müsste ein abgrundtief erschrockener sein. Das bewirkt das übersichtliche Stelenfeld nicht. Es stellt sich höchstens eine Suggestion von Erhabenheit ein, wegen des historischen Bezuges, weniger eine entsprechende Empfindung. Wohlgemerkt ist die strikte Vermeidung von „Kitsch“, die Eisenman stets beansprucht hat, dem Architekten gelungen. Hier ist nichts sentimental oder gar anbiedernd. Aber so wenig das Denkmal Antworten gibt, so wenig stellt es seinerseits Fragen. Eisenman dachte stets an „Stille“. Das Mahnmal, sagte er gestern, „spricht leise, ohne zu sprechen“.

Doch gerade weil es – anders als etwa das Buchenwald-Denkmal – keine vorgeprägte Aussage macht, könnte das Holocaust-Mahnmal das irritierende Etwas der Bundesrepublik werden. Eine Irritation, zu der man „gerne hingehen“ wird.

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