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Christian Broecking 1957-2021

© privat

Zum Tod des Jazzkritikers Christian Broecking: Eine Frage des Respekts

Seine Leidenschaft gehörte dem radikalen Jazz. Denn er wollte wissen, was die Welt besser machen könnte.

Es gibt Lebenslinien und Notenlinien, und beide haben oft erstaunlich viel miteinander zu tun. Christian Broecking, Jazzkritiker, Kulturforscher und Kolumnist auch des Tagesspiegels über viele Jahre, wusste um diese Verbindungen. Er spürte sie auf, suchte nach den Erfahrungen, die sich in Musik niederschlugen, fasziniert von dem Ausdruckswillen jener Musiker, die sich allerdings nicht um Noten scherten, sondern Töne spielten, nie gehörte, freie Töne, von denen eine Linie zurück in die Vergangenheit reicht und eine in die Zukunft.

Wo kommt Musik her? Das war die Frage, mit der Christian Broecking sich an einer Erklärung versuchte. Wohin sie wolle, interessierte ihn wohl auch, aber nicht allzu sehr, weshalb es falsch ist, in ihm einen gewöhnlichen Kritiker zu sehen. Obwohl er für „Taz“, Tagesspiegel und „Berliner Zeitung“ sowie für Jazz-Magazine schrieb und dabei die landläufige Vorstellung eines Jazzkritikers erfüllte, suchte er doch über das bloß Gehörte hinauszugelangen. Er redete mit den Musikern, seinen Idolen und jenen, die ihm weniger sympathisch waren, denn ihn interessierten Anekdoten und Lebensumstände, ihre Weltsicht, kurz: der schöpferische Rahmen.

Teil des Problems oder der Lösung

„Jeder Ton eine Rettungsstation“ lautet der Titel eines von Broeckings Büchern über den Avantgarde-Jazz der frühen 60er Jahre. Es beginnt mit Albert Ayler und wie der Saxophonist von Engeln träumte, „groß wie das Empire State Building“. Und weiter: „Über Musik redete er in der Sprache der schwarzen Kirche. Geister. Geistige Einheit.“ Broecking folgt der kurzen Spur dieses Radikalen des Jazz, der sich auf eine Stufe mit John Coltrane und Pharoah Sanders stellte, indem er meinte, Trane sei der Vater, Pharoah der Sohn, „und ich bin der Heilige Geist“. Und den man 1970 mit 34 Jahren tot aus dem East River fischte. In Broeckings Annäherung reihen sich Namen und die Erinnerungen von Aylers Mitstreitern aneinander, bald schon hat sein Text den Rhythmus einer Jazz-Improvisation, die überall hin Verbindungslinien zieht. Broecking, Jahrgang 1957, kehrt an den Ursprung einer Vitalität zurück, der vor seiner eigenen Sozialisation gelegen hatte.

Als gebürtiger Flensburger verfügte er über ein unaufgeregtes Temperament. Mit seinem imposant wallenden, langsam ergrauten Lockenkopf stand er meist unbewegt im Publikum, elegant gekleidet in einem langen Mantel, der Kragen hochgeschlagen. Jazz hatte ihn befreit, und dass er das hauptsächlich schwarzen Musikern verdankte, warf die Frage auf: Was hatten die an sich, dass es einen wie ihn innerlich brodeln lassen konnte?

Als der Schlagzeuger Max Roach ihm gegenüber einmal den Wunsch äußerte, dass er seine Kreation, den Free Jazz, von den Weißen gerne wiederhaben würde, deren Ehrerbietung nichts besser machte, da dürfte Broecking bewusst gewesen sein, dass er Teil des Problems war. Aber er hörte genauer hin. Denn anwesend war auch Roachs Frau, die Sängerin Abbey Lincoln, und die sagte, wenn sie „We Insist“ sänge, dann wende sich das auch gegen ihren Mann, der sie nicht weniger unterdrücke als die Weißen.

Wer kann in Deutschland schon von sich sagen, dass er mit Ornette Coleman und Wynton Marsalis befreundet ist?

Wie Jazz im Radio unterging

Broecking kannte beide und sie mochten ihn, sie ludern ihn zu sich ein oder besuchten ihn, obwohl sie Antipoden des Jazz waren. Der eine hatte die traditionellen Muster gesprengt, die der andere als das klassische Erbe der afroamerikanischen Kultur wieder zusammenzusetzen und zu bewahren versuchte. Der Kampf um den Kern dessen, was Jazz ist oder sein darf, wird seit Wynton Marsalis' Berufung zum musikalischen Direktor der Jazz-Sparte des Lincoln Center in New York 1991 erbittert geführt. Mit der konservativen Wende tat sich ein Dilemma auf, an dem Broecking sich intensiv abarbeiten sollte.

Sein Buch "Der Marsalis-Komplex" versuchte den Identitätsdiskurs der afroamerikanischen Community, die im Jazz ihre Hochkultur verteidigten, mit der Freiheit aller auszubalancieren. "Die Bewahrung des kulturellen schwarzen Erbes ist nur um den Preis individualistischer Wertvorstellungen und Disziplin zu haben", erkannte Broecking. Und für Jazzmusiker wurde plötzlich wichtig zu wissen, auf welcher Seite sie standen. Broecking erkannte, welche Probleme ihnen das bereitete, und so bot er sich ihnen als Gesprächspartner an.

Die "Fire Music" des Free Jazz hatte auch ihn, Christian Broecking, befreit.

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Als der Kulturkampf durch den offenen Rassismus der Trump-Regierung abermals befeuert wurden, war Broecking schon stiller geworden. Seit vielen Jahren lebte er mit der Diagnose eines Krebsgeschwürs, inoperabel, tödlich, nachdem es sich auszubreiten begonnen hatte. Es gab Leute außerhalb seiner Familie, die davon wussten, aber angesprochen wurde er darauf ungern. Sein "freundliches Beharren", wie ein Freund sein Wesen beschreibt, das ihn seine Bücher, nachdem der Berliner Verbrecherverlag sie nicht noch einmal als Gesamtausgabe herausbringen wollte, selbst verlegen ließ, folgte stets einem simplen Credo: Ich mache das jetzt einfach weiter.

Natürlich fiel es ihm schwer zu akzeptieren, dass Jazz aus dem öffentlichen Raum verdrängt wurde. Zu Broeckings größten Projekten zählte denn auch der Aufbau des Berliner Jazz-Radios, dessen Programmdirektor er von 1994 bis 1998 war. Seine Hoffnungen erfüllten sich allerdings nicht. Den Untergang des radikalen Jazz im Radio musste er bedrückt und hilflos mitansehen. Also verlegte sich der studierte Soziologe, dessen Promotion sich mit der gesellschaftlichen Relevanz der afroamerikanischen Musik beschäftigt hatte, aufs Schreiben und Lehren.

Black Codes und Identität

Wie könne man die Welt besser machen?, fragte er. Welchen Anteil daran hat Jazz? Die Antwort darauf ist kompliziert und es bedurfte schon der Kombination aus analytischem Geist, profundem Wissen und einer Menge Leidenschaft, wie Broecking sie besaß, um das Dickicht an Positionen zu durchdringen. Am Ende lief für ihn alles auf einen Begriff hinaus: "Respect". Was der Trompeter Don Cherry darunter verstand, gefiel Broecking so gut, dass er es seinem gleichnamigen Buch über die "Dekonstruktion der Negro-Ästhetik" voranstellte. Es gebe viele Arten des Respekts, sagt Cherry. Etwa, wenn seine Kinder ihn fragten, wie er diesen oder jenen Akkord gespielte habe. "Man schüttelt sich die Hände oder grüßt sich. Und als ich im Publikum von Wynton Marsalis saß, spielte er auch einige Stücke aus meiner Zeit mit Ornette Coleman. Das nenne ich Respekt."

Broeckings Liebe gehörte stets der "Fire Music", die mit Ornette Coleman als revolutionäres Moment in die Welt getreten war. Es war schon immer schwer gewesen, sie gegenüber jenen zu loben, die sie als zu chaotisch und grob und praktisch unhörbar empfanden. Aber es wurde noch schwerer, als selbst namhafte Jazzmusiker einer jüngeren Generation sie ablehnten - und zwar aus politischen Gründen. Jetzt, da man nicht mehr wissen könne, was Jazz sei, könnten die Weißen damit anstellen, was sie wollten, so das Argument. Broecking verstand Jazz als "Widerstandscode der schwarzen Community". Er zollte ihm Respekt, indem er wissen wollte, indem er Fragen stellte. Wer sich künftig mit "Black Codes" und Identitäten beschäftigt, dürfte um seine Anthologien nicht herumkommen.

Broecking starb vergangenen Dienstag im Kreis seiner Familie. Er wurde 63 Jahre alt.

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