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Der Kreis schließt sich in Kreuzberg. Die lettisch-deutsche Filmwissenschaftlerin Valentina Freimane in ihrer Wohnung am Landwehrkanal.

©  Björn Kietzmann

Oper über eine Holocaust-Überlebende: Einmal Riga und zurück

Valentina Freimane hat den Holocaust in Lettland überlebt, weil andere Menschen ihr halfen. Aus ihrem Leben wurde eine Oper, die jetzt in Berlin aufgeführt wird.

Vor drei Wochen in einem Dachgeschosssaal des Jüdischen Museums Berlin: Die Botschafterin Lettlands ist gekommen, ihr Land hat gerade die EU-Ratspräsidentschaft inne. Das Projekt, die Oper, die hier vorgestellt werden soll, hat zwei Schirmherren, Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und den lettische Außenminister. Mächtig viel diplomatischer Auftrieb – fast könnte man vergessen, dass der Anlass des ganzen Brimboriums eigentlich etwas sehr Zartes und Verletzliches ist: die Geschichte einer Frau, deren Leben am seidenen Faden hing und die doch gerettet wurde. In der ersten Reihe sitzt Valentina Freimane, 92, und dass sie hier sitzt, ist schon ein wesentlicher Teil der Geschichte. Denn als Jüdin im von Deutschen besetzten Europa war sie, wie Millionen andere, zur Vernichtung vorgesehen. Überlebt hat Valentina Freimane, weil andere ihr geholfen und sie versteckt haben. 2010 hat sie ihre Biografie „Adieu Atlantis“ veröffentlicht, die in Lettland ein Bestseller wurde. Die deutsche Übersetzung ist im März erschienen. Der lettische Komponist Arturs Maskats hat auf Grundlage dieses Buches die Oper „Valentina“ geschrieben, Uraufführung war im Dezember in Riga. Am Dienstag kommt sie als einmaliges Gastspiel an die Deutsche Oper Berlin.

Ihr Deutsch klingt als hätte es eine lange Reise in unsere Gegenwart unternommen

Besuch bei Valentina Freimane zu Hause. Ein Mietshaus in Kreuzberg, West-Platte, nur wenige Minuten vom Landwehrkanal entfernt. Hier lebt sie, zwischen meterlangen Regalwänden mit Büchern, Zeitschriften, Videos, DVDs. Ihre Wohnung ist ihre Burg, prall gefüllt mit gelebtem Leben, mit Erinnerung: an Lettland, an den Krieg, an die Menschen, die sie damals gerettet haben, an die Jahrzehnte danach in der Sowjetunion, an die zahllosen Filme, die sie als Dozentin für Theater- und Filmwissenschaft an der Lettischen Akademie der Wissenschaften studiert und analysiert hat. Ein Leben, in dem sich auch die Geschicke Lettlands und Deutschlands spiegeln.

„Adieu Atlantis“, das meint den Abschied von der Welt Vorkriegslettlands, die ja eigentlich auch schon eine Zwischenkriegswelt war. Valentina Freimane kam dort 1922 zur Welt, vier Jahre, nachdem die baltischen Staaten die Unabhängigkeit von Russland erlangt hatten. „Adieu Atlantis“ meint aber auch Abschied vom Berlin ihrer Kindheit. Denn vom vierten bis zum 14. Lebensjahr hat sie hier gelebt, „meine Eltern wohnten in der Meinekestraße, dort, wo sich heute das Hotel ,Residenz‘ befindet“, erzählt sie. Sie spricht schnell, aber trotzdem wohlüberlegt, in einer Sprache, die vertraut und fremd zugleich klingt. Ihr Deutsch hört sich an, als käme es von weither, als hätte es eine lange Reise in unsere Gegenwart unternommen. Es ist das Deutsch einer vergangenen Epoche. „Jemand hat mir mal gesagt“, erzählt sie verschmitzt, „ich spräche so ein angenehm altmodisches Deutsch der Dreißiger, das gefiel ihm“. Wer weiß zum Beispiel heute noch, welche Region sie meint, wenn sie „Kurland“ sagt?

Die gesamte Familie wird ermordet, 30 Menschen, nur Freimane überlebt

Es war ein großbürgerlicher, kosmopolitischer jüdischer Haushalt, in dem Valentina Freimane aufwuchs. Der Vater arbeitete für die UFA, die Mutter war kunstliebend. Viele Schauspieler gingen ein und aus, ständig pendelte die Familie zwischen Riga, Berlin und Paris. „Der Nazi-Terror war in den Vierteln am Kurfürstendamm erst nicht so stark zu spüren“, erzählt sie. Aber schließlich ging es auch hier los, Freunde verschwanden plötzlich, die Familie kehrte nach Riga zurück – nur um zu erleben, wie das Heimatland im Malstrom der Diktaturen zerrieben wurde. Erst besetzte die Sowjetunion nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1940 das Baltikum, „eine verheerende, gesetzlose Zeit“, nennt es Valentina Freimane und findet in der heutigen Politik Wladimir Putins fatale Parallelen zu den falschen Versprechungen und Lügen der Sowjets von damals. 1941, nach dem Überfall auf die Sowjetunion, kamen dann die Nazis, ein noch brutaleres Regime. Die Eltern mussten, wie andere Juden Rigas, ins Ghetto gehen. Valentina Freimane überlegt kurz: „Meine Mutter war eine nicht-sentimentale Frau. Sie wusste, dass es ein Abschied für immer war.“ Die Nazis ermordeten alle Ghettobewohner, eine Generalprobe für noch größere Verbrechen in Warschau.

Valentina Freimane überlebte in verschiedenen Verstecken. Der erste, der sie rettete, war ihr nicht-jüdischer Ehemann. Er wurde verraten und abgeführt, eine Szene in Arturs Maskats Oper erzählt davon. Danach kam sie bei anderen Bewohnern Rigas unter, mal ein paar Tage, mal mehrere Monate. Als der Krieg zu Ende war, war ihre Welt zerstört, ihre Eltern und die ganze restliche Familie umgekommen, 30 Menschen. Valentina Freimane war völlig allein. Und wurde, so war das damals, von sowjetischen Offizieren gefragt, warum sie überlebt hatte. Nicht „wie“. Sondern „warum“. Hat sie etwa ihren Körper verkauft? Das Misstrauen gegen die Opfer war groß. Von „ermordeten Juden“ durfte die Presse nicht schreiben, nur von „ermordeten Sowjetbürgern.“

Der Holocaust in der Kunst erzählt die Geschichte der Überlebenden – und schweigt über die Toten

Ganz gewöhnliche Rigaer verstecken und retten eine Jüdin, diese Anne-Frank- Geschichte mit positivem Ausgang ist der Kern der Oper, von der im Jüdischen Museum auch Auszüge präsentiert wurden. Der Komponist saß selbst am Klavier. Sensibel zeichnet Maskats Musik die Gefühlszustände der Protagonisten nach, ohne dabei übertrieben pathetisch zu werden, es sind jiddisch angehauchte Klänge, die zugleich an die Tonsprache Francis Poulencs erinnern. Wie jede künstlerische Verarbeitung des Holocaust muss sich auch diese mit dem Dilemma auseinandersetzen, dass von Lebenden erzählt wird, wo so unfassbar viele starben, für die es keinerlei Hoffnung gab. Aber die Geschichte von Valentina Freimane und anderer Holocaust- Überlebender steht dafür, dass Menschlichkeit immer möglich war, dass die Nazis ihr Ziel nicht erreicht haben.

In der Sowjetunion hat Valentina Freimane Karriere gemacht, erst journalistisch, dann als Wissenschaftlerin. In einem von ihr „Filmlektorium“ genannten Kreis zeigte sie Rigaer Studenten indizierte Filme aus dem Westen: Visconti, Fellini, Bergmann. „Es waren keine politischen Filme“, erklärt sie, „sie sprachen Wahrheit mit den Möglichkeiten der Kunst aus.“ Auch Arturs Maskats oder Opernregisseur Alvis Hermanis, der heute an vielen großen Häusern inszeniert, waren damals dabei. Gab es Schwierigkeiten, verwies Valentina Freimane darauf, dass auch in Moskau diese Filme zu sehen waren: „Immer mit Moskau operieren, das half!“ Sie war und ist eine scharfsinnige Frau. Bis zum Ende der UDSSR galt für sie strenges Ausreiseverbot, zeitweilig durfte sie nicht mal die sozialistischen Bruderländer besuchen.

Freimane lebt nun wieder in Berlin: „Damit hat sich ein Kreis geschlossen“

Heute lebt sie wieder in Berlin, ein alter Wunsch von ihr. „Damit hat sich ein Kreis geschlossen“, erklärt sie. Heimisch fühlt sie sich in der Stadt, hat viele Freunde, auch wenn es weniger werden. „Theater heute“-Gründer Henning Rischbieter etwa, den sie 1989 auf einem Festival des deutschen Theaters in Moskau kennengelernt hat, ist inzwischen verstorben. Zur Uraufführung von „Valentina“ konnte sie wegen eines gebrochenen Beins nicht nach Riga reisen. Aber bei der Berliner Premiere wird sie dabei sein. Sie ist zäh. Eine Überlebende.

„Valentina“, einmaliges Gastspiel der Lettischen Nationaloper, 19. Mai, 19.30 Uhr, Deutsche Oper Berlin

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