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Kultur: Einwanderer ohne Auswanderung Warum DDR-Geschichte

nicht mehr so wichtig ist.

Berlin, kurz nach der Wiedervereinigung. Bei Kaiser’s am Kottbusser Tor steht ein Ossi-Ehepaar mit seinem Einkaufswagen an der Kasse an. Er poltert: „Schon wieder in der Schlange steh’n. Dafür ham wa nich’ rübergemacht.“ Vor ihm steht ein Türke und antwortet: „Wir euch nix gerufen.“ Der Witz basiert auf einem Perspektivwechsel. Aus der Sicht vieler Einwanderer, die in der Bundesrepublik schon seit Jahrzehnten gelebt hatten, waren die Ostdeutschen 1990 eine große Gruppe von Neueinwanderern. Das Ungewöhnliche an diesen Immigranten war nur, dass sie überwiegend gut Deutsch sprachen und ihre Heimathäuser nicht hatten verlassen müssen. Ansonsten benahm sich ein Stralsunder, der zum ersten Mal nach Köln kam, kaum anders als ein Grieche, Pole oder Spanier. Er fremdelte, staunte, fand sich nicht zurecht.

Kein Wunder. In der Nacht vom 22. auf den 23. August 1990 beschloss die erste frei gewählte Volkskammer der DDR den Beitritt ihres Landes zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23. Was Gregor Gysi bitter bilanzierte, war richtig: „Das Parlament hat soeben (...) den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 beschlossen.“ Es war ein historisch einmaliger Vorgang. Nie zuvor hatte sich ein Staat freiwillig komplett aufgelöst und war gleichzeitig komplett in einem anderen Staat aufgegangen.

Die Ostdeutschen mussten lernen. Von der Justiz bis zur Bildung, den Steuern bis zur Rente, dem politischen System bis zur freien Presse – alles war neu, und alles war für ihr neues Leben wichtig. Dieser Lernprozess war essenziell für ihre Orientierung im größer gewordenen Deutschland. Anders sah es für die Westdeutschen aus. Ihr Leben änderte sich so gut wie nicht. Dieser Unterschied hatte eine gravierende Folge. Er führte zu einer Asymmetrie in der Relevanz von Biografien und Vergangenheiten. Erzählt euch eure Geschichten: Der Einheits- und Versöhnungsappell war zwar lieb gemeint und führte zu einer Reihe rührend bemühter Ost-West-Dialoge, konnte aber diese Asymmetrie nicht nivellieren.

Natürlich lassen sich viele Ereignisse in den fünf neuen Ländern nach 1990 nur verstehen, wenn man eine Kenntnis ihrer Vorgeschichte hat. Aber der Gesamtkomplex DDR hatte seine Wirkungsmacht vor mehr als zwei Jahrzehnten unwiederbringlich verloren. Man kann ihn seitdem aus historischen, ethnologischen oder exotischen Gründen studieren. Doch wirklich notwendig ist das zum Verständnis der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft nicht.

So überrascht es kaum, dass als Enthüllungssensation geplante Bücher über das Leben von Angela Merkel in der DDR sich schnell in anekdotische Personality-Stories verwandeln. Direkt nach der Vereinigung waren Urteils- und Verurteilungslust der Westdeutschen über das Leben der Ostdeutschen noch groß. Inzwischen herrscht eher eine Mischung aus Zurückhaltung und Desinteresse. Warum sollte es anders sein? Ob Euro-Krise oder Pädophilie bei den Grünen, CSU-Vetternwirtschaft oder der Drohnenskandal im Verteidigungsministerium: Fast kein aktuell relevantes Thema hat auch nur am Rande mit der DDR zu tun.

Die Asymmetrie in der Relevanz von Biografien: Das ist vermutlich die nachhaltigste psychologische Folge der deutschen Einheitswerdung. Der Ossi erfährt, dass sich der Wessi kaum stärker für ihn interessiert als für andere Einwanderer. Deren Schicksale aber werden zumindest gelegentlich durch Integrationsgipfel und Islamkonferenzen aufgewertet. Bleiben als Reaktionen das Verstummen oder das überkompensatorische Bekenntnis, eine „Stasiratte“ gewesen zu sein. Selbst das wird langsam verhallen. Malte Lehming

In unserer Serie zur DDR-Vergangenheit schrieben bisher David Ensikat (16.5.) und Antje Sirleschtov (18.5.).

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