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Kultur: Einzelzelle, lebenslänglich - eine bewegende Entdeckung

Es soll Menschen geben, die sich freiwillig mit dem Tod beschäftigen, als wäre es in jedem Fall eine gesunde Sache, sich mitten im Leben auf das eigene Ende einzurichten. Sie haben dabei sogar Verbündete: Kirchenleute, die das Memento mori zur Drohgebärde nutzen; Künstler, die den Schmerz der Vergänglichkeit erfahrbar machen wollen; oder Denker, die tatsächlich tun, was Montaigne in seinem berühmtesten Diktum als ihre Aufgabe beschrieb: "Philosophieren heißt sterben lernen.

Von Gregor Dotzauer

Es soll Menschen geben, die sich freiwillig mit dem Tod beschäftigen, als wäre es in jedem Fall eine gesunde Sache, sich mitten im Leben auf das eigene Ende einzurichten. Sie haben dabei sogar Verbündete: Kirchenleute, die das Memento mori zur Drohgebärde nutzen; Künstler, die den Schmerz der Vergänglichkeit erfahrbar machen wollen; oder Denker, die tatsächlich tun, was Montaigne in seinem berühmtesten Diktum als ihre Aufgabe beschrieb: "Philosophieren heißt sterben lernen."

Für einen Schriftsteller wie Sándor Márai, der bis zuletzt, in sein neunzigstes Jahr, öffentlich Tagebuch führte, war der Gedanke an die "Abberufung" zweifellos etwas Natürliches. 1900 im ungarischen Kassa geboren, dann lange in Deutschland unterwegs zwischen Leipzig, Frankfurt und Berlin, nach dem Krieg vor der aufkommenden ungarischen Diktatur nach Neapel geflohen, dann nach New York, zurück ins sizilianische Salerno und schließlich nach Kalifornien, starb er 1989 in San Diego. Nur warum, könnte man sich fragen, soll man als Jüngerer Márais "Tagebuch 1985-1989", die unbarmherzige Chronik vom Sterben einer alten Frau und eines alten Mannes, die 62 Jahre lang miteinander Tisch und Bett geteilt haben, lesen? Erstens trifft es einen noch früh genug, und zweitens kommt es anders, als man denkt.

Die Antwort gibt ganz von allein das kleine Buch, das vor wenigen Tagen im Verlag der Kölner Buchhandlung Klaus Bittner (ISBN 3-926397, 22 DM) erschienen ist: ein Fundstück, das übrigens geplant war, bevor Sándor Márai mit seinem Roman "Die Glut" (bei Piper) posthum zum Bestseller wurde: Inzwischen sind rund 80 000 Exemplare seines 1942 erstmals veröffentlichten Romans verkauft, und Klaus Bittner kann sich schon jetzt vor Anfragen kaum mehr retten. Der Piper Verlag hat sich gerade die Taschenbuchrechte gesichert.

Die wenigen Seiten des Tagebuchs, die der Übersetzer Hans Skirecki in der Zeitschrift "Sinn und Form" veröffentlichte, hatten Klaus Bittner und der Herausgeberin Roswitha Haring derart den Atem verschlagen, dass sie beschlossen, sich in Ungarn um die Rechte an diesem bis vor kurzem völlig vergessenen Autor zu kümmern.

Niemand, der diesen von ursprünglich 200 auf nunmehr 48 Seiten komprimierten Bericht in einer ruhigen Stunde zur Hand nimmt, wird lange nach dem Grund suchen, warum dieses Existenzbuch, das auch eine Liebesgeschichte erzählt, eine so herzzerreißende Leseerfahrung ist: nicht aus Pietät, nicht aus Betroffenheit (auch wenn man bei der Lektüre vielleicht einen Kloß im Hals bekommt). Die schlichte Bewunderung für die Klarheit, mit der Márai dem Unausweichlichen entgegensieht, der notwendige Geringschätzung, mit der er sein eigenes Aufbegehren beobachtet, die Gedankenschärfe eines klugen Mannes, der mit diesen Notizen die Literatur längst hinter sich gelassen, sprechen für sich, und die Tatsache, dass es in diesem Stadium nichts mehr zu wissen gibt, was man nicht schon früher hätte wissen können, gibt dem Text die bitterste Note. "Nie schlage ich meine früher erschienen Bücher auf, aber jetzt suchte ich etwas im Tagebuchband 1943-44, und unverhofft stieß ich auf die folgenden Zeilen: ,Ich habe bisher dreiundvierzig Jahre gelebt. Und wenn ich noch einmal so lange lebe? Werde ich dann mehr wissen? Genaueres über Gott, Menschen, Natur und Übernatürliches vermuten? Ich glaube, nein: Erfahrungen verlangen Zeit, aber über ein bestimmtes Wissen hinaus vertieft die Zeit Erfahrungen nicht. Ich werde einfach älter, nicht mehr und nicht weniger."

Letzte Tage über vier mühsame Jahre hinweg. Nachrichten aus einem Reich, in dem es den meisten sonst die Sprache verschlagen hat. Der Sturz seiner Frau, die hier meist nur L. heißt, L. wie Lola oder Ilona. Das Gefängnis Krankenpflege. Das Aus-dem-Leben-Dämmern seiner Frau. Der Abschied, den nur er noch wirklich begreift. 14 Tage später der Kauf eines Revolvers. Die Erkundigungen über das Handwerk des Schießens. Der überraschende Tod seines Sohnes mit 46. Zunehmende Müdigkeit, abnehmende Sehkraft. Erinnerungen an eine Gegenwart, die im Bewusstsein nicht vergehen will. Dazu Lektürenotizen: Spinoza, Cervantes, Sophokles, Voltaire, Gewohnheiten aus einer Zeit, als das Lesen und Schreiben noch geholfen hat. "Fast ein Pflanzenleben." - "Matratzengruft." - "Einzelzelle, lebenslänglich." Bausteine zu einer zweifelhaften Ars Moriendi.

Alles läuft auf die letzte Eintragung vom 15. Januar 1989 hinaus: "Ich erwarte die Abberufung, ich dränge nicht, aber ich zögere auch nicht. Es ist soweit." Danach brauchte Sándor Márai noch genau sieben Tage, um sich zu erschießen.

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