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Kultur: Erinnerung - produktiv

Bevor Hans-Jochen Vogel jetzt den Heinz-Galinski-Preis im Haus der Jüdischen Gemeinde Berlins entgegennahm, hatte er deren Vorsitzenden darauf aufmerksam gemacht, daß er als 15-16jähriger der Hitler-Jugend angehörte.Auch er habe "Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt" gesungen, dann dem "Führer" als Soldat gedient.

Bevor Hans-Jochen Vogel jetzt den Heinz-Galinski-Preis im Haus der Jüdischen Gemeinde Berlins entgegennahm, hatte er deren Vorsitzenden darauf aufmerksam gemacht, daß er als 15-16jähriger der Hitler-Jugend angehörte.Auch er habe "Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt" gesungen, dann dem "Führer" als Soldat gedient.

Aber Vogel gehört, der Laudator Nachama zeichnete es nach, zur Gründergeneration der Bundesrepublik.Als Jurist, als Bürgermeister von zwei Metropolen, Minister in mehreren Kabinetten, Parteivorsitzender der SPD und in vielen anderen Funktionen hat er kräftig dazu beigetragen, die Bundesrepublik zu dem zu machen, was sie heute ist: vielleicht kein "normales" (was ist das?), aber ein ziemlich demokratisches, freiheitliches, leistungskräftiges Gemeinwesen westlicher Prägung, mit großen sozialen Problemen und vielen Defiziten, aber auch mit der Kraft, sie zu bearbeiten - das Gegenbild zur NS-Diktatur.

Die Erinnerung an seine Jugend im Nationalsozialismus, an die Untaten der Deutschen in der Nazizeit, überhaupt an den Zivilisationsbruch 1933-1945 hat für Vogel, er machte es klar, dabei eine entscheidende Rolle gespielt, als Warnung und Orientierung, als Antrieb zum Engagement, als Quelle der Kraft zu politischer Arbeit, als Geschichte, aus der man lernt.

In der von Martin Walser provozierten Debatte über die Last der Erinnerung und die Entlastung durch Verdrängen droht diese einerseits einfache, andererseits schwierige, fast biedere Wahrheit marginalisiert zu werden: Die möglichst klare Erinnerung an die Ermordung der Juden und die anderen Verbrechen der Nationalsozialisten entspricht dem deutschen Interesse.Sicher ist diese Erinnerung immer auch eine quälende, bisweilen unerträgliche Last, und man soll sich nicht wundern, daß immer wieder jemand öffentlich aufstöhnt über die "Vergangenheit, die nicht vergeht" (Nolte) oder "unsere Schande" (Walser), auf die man nicht immer gestoßen werden will.So jemand verdient Verständnis, aber keinen Applaus.

Denn letztlich ist diese Erinnerung produktiv, kann es jedenfalls sein.Sie war es für die Generation, die die Bundesrepublik aufbaute.Die Erinnerung hat nicht gelähmt, sondern mobilisiert und zugleich vorsichtig gemacht.Sie hielt im Bewußtsein, daß auch eine moderne Zivilisation in Barbarei umschlagen kann.Sie motivierte zum politischen Engagement mit dem Ziel, in Zukunft Ähnliches zu vermeiden.Sie wurde zum zentralen Baustein demokratischer Identität der Bundesrepublik, in bewußter Absetzung von ihrer diktatorischen Vorgeschichte.Sie konnte sogar zur Folie einer gewissen Genugtuung darüber werden, daß die Bundesrepublik ihr nationalsozialistisches Erbe vergleichsweise gründlich überwand und mit ihr in Deutschland zum ersten Mal eine dauerhaft funktionierende stabile Demokratie entstand.Die ungeschminkte Erinnerung an den Nationalsozialismus, seine Opfer und seine Ursachen ist insofern eine wichtige Ressource und ein prägender Bestandteil deutscher Identität in der Bundesrepublik.Sie muß es auch in Zukunft bleiben.

Zugegeben, dies ist nicht alles, in dieser Funktion geht Erinnerung nicht auf.Sie trägt viele Gesichter, läßt sich auch nicht kanalisieren, wie man das Vergessen nicht planen kann.Sie einigt nicht nur, vielmehr trennt und verstört sie auch.Doch über ihren zentralen Ort in unserer politischen Kultur, über ihre Notwendigkeit und ihre fundamental positiven Auswirkungen besteht eigentlich viel Konsens.Dies sollte man betonen.Dann läßt sich angemessener über ihr zu wünschendes Maß und die richtigen Formen streiten.Sie sind noch längst nicht gefunden.

JÜRGEN KOCKA

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