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Der Schriftsteller Ernst Lothar wurde 1890 in Brünn geboren. 1974 starb er in Wien.

© Elfriede Broneder/Zsolnay Verlag

Ernst Lothars Lebenserinnerungen: Untergang einer Welt

Die Wiederentdeckung des österreichischen Schriftstellers Ernst Lothars wird mit seinem Buch „Das Wunder des Überlebens“ fortgesetzt

Eine „regelrecht hysterische Liebe zur Heimat“, attestiert Daniel Kehlmann Ernst Lothar im Nachwort dieses großen Erinnerungsbuches, mit dem sich nach den Romanen „Der Engel mit der Posaune" und „Die Rückkehr“ die Wiederentdeckung des Schriftstellers fortsetzt ("Das Wunder des Überlebens", Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020, 464 Seiten, 25 €).

Heutige Leser mögen Lothars unstillbare Liebe zu Österreich und zur verklärten Wesens- und Lebensart des Landes befremdlich finden. „Die Heimat legt man nicht ab wie ein Hemd, noch weniger seine Nationalität und am wenigsten seine Rasse“ – solche Sätze ändern allerdings ihr Aroma, wenn man weiß, dass sie von einem verfolgten und emigrierten Juden geschrieben wurden.

Vielfalt und Weltbürgertum – das sind vielmehr die Qualitäten, die Lothar mit der Real-Utopie von Österreich-Ungarn verbindet, wo er 1890 in Brünn geboren wurde. Ein ganzes Universum habe in dieser „Herrlichkeit“ Platz gehabt: Das Deutsche, Romanische, Mediterrane, Magyarische; die Ausläufer des Orients, die Alpen und die Adria. Es war eine Kontrastlandschaft der Kulturen und Sprachen, nur leider zersprengt vom Nationalismus. Nach 1918 wurde Österreich auf ein Achtel seines vormaligen Gebietes reduziert. Ernst Lothar ist fassungslos über den Untergang seiner Welt.

Sein Vater war ein erfolgreicher Rechtsanwalt; ihm zuliebe studierte er lustlos Jura und schrieb unterdessen seinen ersten Roman. 1910 änderte er seinen eigentlichen Familiennamen Müller in Lothar, um sich von seinem Bruder Hans Müller abzugrenzen, der bereits ein erfolgreicher Dramatiker war, bis er von Karl Kraus satirisch erledigt wurde. Weshalb Lothar in seinen Erinnerungen auch ausgiebig mit der lieblosen Art der Kraus-Kritik hadert.

Lothar gehört zu den Mitbegründern der Salzburger Festspiele

Seine Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg deutet er dagegen nur an; er wurde verwundet. Einige Jahre arbeitete er als Staatsanwalt, bis er sich mit gerade dreißig Jahren im Rang eines „Hofrats“ pensionieren ließ und eine zweite Karriere als Kritiker, Autor, Theaterdirektor und Kulturimpresario machte. Unter anderem begründete er die Salzburger Festspiele.

In beeindruckenden Details schildert Lothar, wie beim „Anschluss“ Österreichs im März 1938 schlagartig die Stimmung im Land wechselt und die politische Verfeindung auch das Theatermilieu durchdringt. Er selbst verliert seine Position und wird sofort bedroht. Abenteuerlich liest sich die Geschichte seiner Flucht, gehetzt von SA-Männern, die Lothar und seine Familie kurz vor der Schweizer Grenze in den Bergen stellen. Dem Verfolgten vergeht die Todesangst erst, als er merkt, dass die martialischen Burschen es in erster Linie auf sein Auto abgesehen haben.

Eine Weile lebt Lothar mit seiner Frau, der Schauspielerin Adrienne Gessner, in Paris, wo er schon 1938 ein „Vichy-Lüftchen über den Boulevards“ spürt. Deutschsprachige Emigranten sind nicht willkommen. Im April 1939 wandert er deshalb in die USA aus. Anfangs stark fremdelnd, dann mit einer hadernden Faszination nimmt er den „American Way of Life“ in den Blick. Überall sieht er eine „normierte Einförmigkeit des Lebens“ und Gebrauchslächel-Grimassen, aber auch viel individuelle Freundlichkeit.

Für einen mit Erinnerungen beladenen Österreicher ist es schwer, sich in die amerikanische Lebenspragmatik hineinzufinden, für die vergangene Leistungen und ein reichhaltiges Vorleben nicht zählen. Ohne Aussicht auf Einkünfte ist Lothars Verzweiflung so groß, dass er ernsthaft erwägt, sich mit Adrienne in den vierzig Meter tiefen Lichtschacht zu stürzen, auf den das Fenster ihres New Yorker Zimmers hinausgeht.

In New York gründet er ein deutsches Theater

Vorher aber beschließt er noch, Thomas Mann in Princeton zu besuchen. Dem gelingt es, Lothar wieder aufzurichten. Er gibt ihm die Imperative des Überlebens vor: Kein Defätismus! Weiterschreiben! Und auf keinen Fall die Sprache wechseln! Vielmehr mit der „Waffe des deutschen Wortes“ den Kampf gegen Hitler führen! Gestärkt durch diese „Injektion“, gründet Lothar in New York ein kleines Theater, das deutschsprachige Stücke spielt. Thomas Mann schickt einen Scheck und ist begeistert. Leider bleibt der Erfolg völlig aus – und Lothar lernt, gegen Manns Rat, emsig Vokabeln und beginnt auf Englisch zu schreiben.

Und dann folgt die große Szene, in der die beiden Emigranten Ernst Lothar und Franz Werfel in einem New Yorker Café sitzen und bei einem Blick auf die Bestsellerliste feststellen, dass sie beide darauf vertreten sind, Platz vier und Platz sieben. Lothar hat es geschafft, mit „Beneath Another Sun“ ein auf Englisch schreibender Erfolgsautor zu werden. Er bekommt eine Gastprofessur am Colorado College; Adrienne reüssiert unterdessen als Schauspielerin. Schließlich erhalten beide die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Und doch kommt das alles nicht an gegen seine Rückkehrsehnsucht. In den Hotelzimmern des Exils geht er im Geist spazieren durch Wiener und Salzburger Straßen. Während des Krieges hält er Vorträge, in denen er der „ungerechtfertigten Identifizierung Österreichs mit Hitler-Deutschland entgegenzutreten“ versucht, vielmehr Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus darstellt. Dass Adolf Hitler aus Österreich kam und viele Österreicher sich in der SS durch Eifer hervortaten – das sind Tatsachen, die er auch im Rückblick nicht wirklich wahrhaben möchte.

In Wien soll er das Kulturleben entnazifizieren

Aber dann, endlich: die Rückkehr. Wenn Lothar beschreibt, wie er 1946 als Kulturoffizier im Dienst der US-Army in der „vielleicht besten Stunde“ seines Lebens wieder Salzburg betritt, hat das den Charakter einer Epiphanie. Es ist ein beseligendes Schauen und Fühlen. Man spürt aber auch, dass diese Liebe viel Dunkles in Lothars Leben kompensieren muss, etwa den frühen Tod seiner beiden Töchter, der ihn womöglich noch tiefer erschüttert als das ganze NS- Verhängnis.

In der Dritten-Mann-Atmosphäre des Nachkriegs-Wien ist er für die Entnazifizierung des Theaterbetriebs zuständig. Furtwängler, Strauss, Karajan, Paula Wessely, Emil Jannings, Werner Krauß - es sind so heikle wie faszinierende Begegnungen mit Belasteten, die er beschreibt. Obwohl er von Krauß „Rache-Lothar“ genannt wird, ist er meist schnell bereit, das Vergangene zu vergeben und das Kulturelle über das Politische zu stellen. Sein scharfes Urteil wird indes nicht getrübt durch diese Versöhnlichkeit. Als sein Auftrag endet und er in die USA zurückbeordert wird, macht er etwas, das kaum jemand in seinem Umkreis begreifen kann: Er gibt seine amerikanische Staatsbürgerschaft zurück. 1974 stirbt er in Wien.

Die Sprache Ernst Lothars ist bisweilen überschwänglich. Aber nur selten wirkt das Pathos hohl, vielmehr genießt man bei der Lektüre die vielen bildkräftigen und pointierten Formulierungen. „Das Wunder des Überlebens“, erstmals erschienen 1960, liest sich heute als bedeutendes Stück Kulturgeschichte Österreichs und der Emigration.

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