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Richard Powers’ Held gehört zu einer Forschungsgruppe, die hiermit extrasolare Planeten erkundet. Es hat ein reales Vorbild. Das Keppler-Projekt, das 2018 von der NASA eingestellt wurde.

© picture alliance / dpa

„Erstaunen“ von Richard Powers: Die Atmosphäre ist das Wichtigste überhaupt

Pulitzer-Preis-Träger Richard Powers erzählt in „Erstaunen“ die Geschichte eines ungewöhnlichen Vater-Sohn-Gespanns. Es ist ein kluger und unterhaltsamer Roman geworden.

Man kann es Resonanz nennen oder Feedback, es stimmt auf jeden Fall, worauf Richard Powers seinen neuesten Roman gründet: Kindererziehung hat eine Menge mit Rückkopplung zu tun. Familien, gleich welcher Art, sind grandiose Stimmungs-Modulatoren. Geht es einem oder einer schlecht, wirkt sich das auf alle aus. Dabei können es schon kleine Dinge sein, die den Tag verhunzen: Die Milch ist sauer, das Brot ist aus, die Hausaufgaben wurden vergessen, eine Klausur steht an, von der die Eltern erst am Morgen erfahren. Niemand bleibt, wer sie oder er ist, wenn sie Mutter oder Vater wird. Der amerikanische Erfolgsautor spricht vom „Feedback-Training namens Elternschaft“.

„Erstaunen“ ist trotzdem kein Familienroman im üblichen Sinne. Wer Richard Powers kennt, der weiß, dass der 1957 geborene Schriftsteller, der für seinen letzten Roman, „The Overstory“ („Die Wurzeln des Lebens“) den Pulitzer Preis erhielt, immer aufs große Ganze zielt. Powers hat zunächst Physik studiert und als Programmierer gearbeitet. Das wirkt sich auf die Art aus, wie er seine Plots strickt. Theo Byrne ist Astrobiologe, Mitte vierzig. Er gehört zu einer Forschungsgruppe, die mit einem Hochleistungs-Weltraumteleskop extrasolare Planeten erkundet (das leicht verfremdete, im Oktober 2018 eingestellte Kepler-Projekt der NASA).

Aus den Daten programmiert er Atmosphärentypen, die primitive Formen des Lebens ermöglichen könnten. Seinem hochbegabten Sohn haben die Ärzte Diagnosen von Asperger über Zwangsstörung bis ADHS verpasst. Robin ist von ganz alleine darauf gekommen, dass die Forschungen seines Vaters widersprüchlich sind: „Wenn an so vielen Orten Leben sein könnte, wieso ist dann nirgendwo jemand?“ Powers macht sich ein Vergnügen daraus, seinem kleinen Schlauberger verschiedene mathematische und physikalische Paradoxa – hier das Fermi-Paradoxon - in den Mund zu legen.

Das wäre vielleicht etwas zu sehr ein Roman nach dem Muster eines „Was ist was“-Bands über den Kosmos, wenn er seinem Vater-Sohn-Gespann nicht eine tragische Familiengeschichte mit auf den Weg geben würde. Aly, Theos „vergötterte“ Frau und Robins geliebte Mutter, ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Auf nächtlicher Straße ist sie einem Opossum ausgewichen, einem nicht besonders geschätzten Tier also, und geriet auf die Gegenfahrbahn. Hat sich das gelohnt, ihr Leben für das eines Tieres hinzugeben? War es eine richtige Entscheidung, wenn es überhaupt eine war? Wie weit gehen wir für unsere Überzeugungen? Das sind einige der moralischen Fragen dieses Romans von Powers.

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„Bewilderment“, wie er im nahezu zeitgleich erscheinenden amerikanischen Original heißt (anders als das bewährte Übersetzerteam Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, hätte man das auch mit „Verwirrung“ übersetzen können), ist auf dem Terrain verschiedener Themenfelder angesiedelt. Von Klimawandel und Biodiversität über Neurowissenschaften und Neuro-Enhancement bis zu Kosmologie und Evolutionslehre reicht die Spanne. Die Wissenschaftsfeindlichkeit der Donald-Trump-Ära bildet eine Art Hintergrundrauschen, genährt von dem typisch US-amerikanischen Konflikt zwischen Wissenschaft und Glauben.

Meisterhafter Erzähler. Schriftsteller und Programmierer Richard Powers.
Meisterhafter Erzähler. Schriftsteller und Programmierer Richard Powers.

© Jimmy Kets/Reporters/laif

Aly war ein Musterexemplar der menschlichen Gattung. „Kompakt, doch planetarisch“ nannte Theo sie gern (nach einem Sonett von Neruda). Sie hat nicht nur als Juristin für NGOs gearbeitet und für Klimaschutz und Diversität gekämpft. Sie hatte auch einen Schwung und einen Optimismus, der ihre kleine Familie am Laufen hielt. Nun ist sie weg, seit rund zwei Jahren. Und ein hochbegabter Junge, der in der Schule gemobbt und für krank erklärt wird, ist allein mit einem Vater, der ihm zum Einschlafen von fernen Planeten erzählt und deren lebensfeindliche Bedingungen schildert. Wie der erfundene Planet Dvau, dem die Schwerkraft eines Mondes fehlt, der seine Rotation stabilisieren könnte, taumelt er nun zwischen den Anforderungen seines Berufs und der Erziehung seines Sohnes hin und her. Wie soll er eine Umgebung schaffen, die dem Aufwachsen eines einsamen Jungen förderlich ist?

[Richard Powers: Erstaunen. Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 317 Seiten, 23 €.]

Richard Powers lässt sich einiges einfallen, um dem trauernden Vater-Sohn-Gespann ein literaturwürdiges Umfeld zu bieten. Am Anfang sieht man beide auf einem Indian-Summer-Ausflug in die Great Smokey Mountains. Es ist wie bei Thoreau, einem der Urväter des Nature Writing. Übernachtung in einer Blockhütte und im Freien, eiskalte Gebirgsbäche, unbekannte Fauna, mannigfaltigste Flora am Wegesrand. Natürlich begreift der kluge Robin, dass sein Vater gerade seine Hochzeitsreise mit ihm nachspielt. Da er alles über seine Mutter wissen will, kommt ihm das entgegen. So erfährt er auch, warum er Robin heißt: „das Rotkehlchen ist mein Lieblingsvogel“, sagte seine Mutter auf der Reise mit betörender Nachsicht, als Theo ihr etwas ganz Besonderes zeigen wollte und sich herausgestellt hatte, dass es „nur“ ein Rotkehlchen war. Das Rotkehlchen, Britisch „robin“, ist der „Wappenvogel“ ihrer Partnerschaft. Wann immer sie den Namen aussprachen, ging es ihnen besser.

Als Robin seinem besten Freund das Jochbein zertrümmert, steigt der Druck, ihn medikamentös zu behandeln. Theo will das nicht. Er erinnert sich an Martin Currier, einen Neurowissenschaftler und Freund, womöglich gar Liebhaber seiner Frau, bei dem beide schon zu Versuchszwecken in der Röhre lagen. Sie hatten sich als Probanden zur Verfügung gestellt, um ein neues Verfahren zu testen. „Decoded Neurofeedback“ („DecNef“) ist eine mit KI und Bildgebung unterstützte Fortentwicklung des früheren, simpleren Biofeedbacks. Damals sollten sie bestimmte Emotionen simulieren, die zuvor per Zufallsgenerator ausgewählt worden waren. Er bekam „Bewunderung“ und „Kummer“ zugeordnet, sie „Wachsamkeit“ und „Begeisterung“. Theo bittet Currier um Hilfe, auch wenn es ihn immer noch quält, nicht zu wissen, welche Erinnerungen seine Frau verwendete, um der Neurowissenschaft eine „Galavorstellung“ ihres limbischen Systems zu geben.

Der Roman wirft eine große Frage auf

Als Robin in eine Versuchsreihe zur Verhaltensintervention aufgenommen wird, bessert sich sein Zustand schnell. Nach einer erneuten Krise trainiert man ihn schließlich mit dem Hirnscan seiner Mutter. Seine Glückseligkeit kennt keine Grenzen. Seine ganze Weltsicht ändert sich. Alles geht ihm leicht von der Hand. Allerdings nimmt mit der Empathie auch sein Leiden an der Welt zu. Ähnlich wie Greta Thunberg, die hier Inga Adler heißt, hält er Schule für sinnlos und demonstriert vor dem Wisconsin State Capitol in Madison. Die Atmosphäre in Washington ändert sich. Die Projekte des Neurowissenschaftlers und des Astrobiologen werden kaltgestellt. Auch für Robin ist das eine Katastrophe.

Nur einer der phantasierten Planeten taugt als utopischer Ort. Es ist Xenia. Eltern gibt es dort nicht. Jeder ist das Kind aller anderen. Die gesamte Spezies intelligenter Wesen trägt mit etwas Keimplasma zur Fortpflanzung bei. Jedes Lebewesen schwebt „auf dem Floß seiner lebendigen Verwandtschaft“. Richard Powers hat vor Jahren sein Genom sequenzieren lassen und mit „Das Buch Ich #9“ gezeigt, dass das eigentlich nicht viel bedeutet. „The Overstory“ erzählte von der Ökologie des Waldes als Vorbild für menschliche Gemeinschaften.

Richard Powers hält die rührseligen Momente durch naturwissenschaftliche Narrative auf Distanz. Doch ohne Aly als das große Phantasma im Hintergrund würde die aus Theos Perspektive erzählte Geschichte nicht funktionieren. Sie spendet dem Roman Begeisterung, Zuversicht und Wärme. Atmosphäre ist alles, das weiß nicht nur die Astrobiologie, die Klimaforschung und die Psychologie. Das weiß auch der Schriftsteller. „Erstaunen“ ist ein unterhaltsamer und kluger Roman, virtuos wirft er eine große Frage auf: ob es der Menschheit gelingen kann, ihr Wissen um den Zustand des Planeten in Handlungen zu überführen, die den Weg zwischen Angst und Zuversicht finden.

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