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Mit schlafwandlerischer Sicherheit. Der Journalist und Autor Chris Power.

© Claudia Burlotti

Erzählsammlung „Mothers“: Chris Power schreibt wie die Großen des Genres

Kleine Haarrisse und große Katastrophen: Als Journalist ist Power seit Langem der Kurzgeschichte verbunden. Nun schreibt er sie selbst - erstaunlich souverän.

Einmal verlässt Chris Power recht unvermittelt seine eigene Geschichte. Er setzt sich in „Der Koloss von Rhodos“ gewissermaßen auf das Sofa, gleich neben den Leser, und erklärt diesem, was er da gerade eigentlich genau anstellt, literaturwissenschaftlich gesehen.

„Kurzgeschichten müssen alles Belanglose abstreifen, und Nancy und Kostas, um von Karla ganz zu schweigen, sind für diese Erzählung belanglos", schreibt er: „Und ich habe keine Katze getötet, habe allerdings gesehen, wie eine Katze getötet wurde."

Diese Direktadressierung ist ein cleverer Kniff, sie erzeugt einen Illusionsbruch und verschiebt den Regler zwischen Wirklichkeit und Inszenierung. Gleichzeitig ist sie ein zarter Hinweis auf eine Tatsache, die in einem Text über Chris Power ganz am Anfang stehen muss, alles andere wäre unstatthaft: Power ist der Kurzgeschichte seit langer Zeit beruflich verbunden, allerdings nicht als Autor, sondern als Journalist, er schrieb für den britischen „Guardian“ lange Zeit profunde Texte zum Genre.

Mit „Mothers“ hat er nun einen eigenen, zehn Geschichten starken Erzählband geschrieben. Natürlich ist man da erst einmal skeptisch: Bands von Musikjournalisten sind oft genug grauenhaft, auch ein Gastro-Journalist kann nicht unbedingt kochen. Wieso sollte ein Literaturkritiker also die Fiktion beherrschen? Im Falle von Chris Power darf man Entwarnung geben.

Beim Lesen denkt man an die Großen des Genres

Die Erzählungen in „Mothers“ überraschen nicht unbedingt; sie sind aber mit schlafwandlerischer Sicherheit angelegt. Man muss beim Lesen an die Großen des Genres denken, an John Cheever, John Updike, Richard Ford oder Flannery O'Connor.

Power schält souverän die Konfliktlinien seiner Protagonisten heraus, sie sind oft genug scharfkantig und lebensverändernd, manchmal aber auch nur kleine Haarrisse, um die kein großes Gewese gemacht wird, an denen jedoch unangenehme Ahnungen hängen.

Da ist zum Beispiel Eva. Sie begegnet dem Leser im Verlauf des Buches noch zwei Mal in späteren Lebensphasen, gibt dem Band eine Struktur, die gar nicht nötig gewesen wäre. In der ersten Geschichte sehen wir sie als kleines Mädchen, das in den siebziger Jahren mit ihrer Mutter in einer Siedlung am Stadtrand Stockholms aufwächst; Nisse, der Junge von nebenan, ist wild und gefährlich.

Er wirft Äpfel durch die Fenster ins Treppenhaus der gleichförmigen Wohnblocks, sie zerplatzen an der Wand. Eva küsst ihn, er weicht zurück. Es herrscht in dieser Geschichte eine Ereignislosigkeit, die bemerkenswert ist. Der kleine Verrat, der am Ende steht, ist einer, der in jeder Siedlung jedes Landes auf dieser Welt täglich tausendfach vorkommt.

Und doch gelingt es Power, dieser Story eine Gravität beizugeben, was sicher eine Sache der Tonalität ist: Der Londoner berichtet aus dem Innenleben eines elfjährigen Mädchen mit einer Selbstverständlichkeit, die ebenso berührend wie bemerkenswert ist.

Charaktere ohne Verortung

Als Leser ist man genauso mitgenommen wie in jenen Momenten, in den wirklich Schlimmes passiert, etwa in „Über der Hochzeit“: Miguel küsst Liam. Es ist seine erste sexuelle Erfahrung mit einem Mann. Eine kurze On-Off-Affäre nimmt ihren Anfang, rasch versandet sie. Während Miguel bald seine Heirat plant, kann Liam nicht loslassen. Auf der Hochzeitsfeier in Mexiko kommt es zum Eklat.

Oder in „Die Flussüberquerung“: Ann und Jim, erst seit kurzer Zeit ein Paar, gehen gemeinsam wandern. Während sie nasse Füße bei Bachüberquerungen bekommen, merkt Ann, dass sie auf diesen Typen gar keine Lust hat. Hier spielt Power mit schmerzhafter Wucht kleiner Gott. Ein kleiner Fehltritt führt zur größtmöglichen Katastrophe, „das sollte Ann nie vergessen: das schreckliche Tempo, in dem es geschah“.

[Chris Power: Mothers. Erzählungen. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Ullstein Verlag, Berlin 2019. 288 Seiten, 22 €.]

Interessant ist, dass Power seinen Charakteren die Verortung nimmt. Sie sind weder soziologisch noch geographisch in einem Milieu angesiedelt; ihr Sprach- und Handlungsraum stimmen selten überein. Sie hadern mit sich selbst in Griechenland ebenso wie in Spanien, den USA, Mexiko oder Schweden.

Das mag man als eine der Haupteigenschaften einer Gesellschaft sehen, in der die Grenzen für Bürger zumindest der westlichen Welt völlig offen stehen. Gleichzeitig verlockt es zu emotionalen Fluchtbewegungen, führt zu schreiender Einsamkeit und Entwurzelungen, die von Powers präzise beschrieben wird.

Gegenwart und Vergangenheit verschränken sich

Am berührendsten ist jene in „Der Dolmen Havängsdösen“: Nach einer Konferenz in Schweden bleibt ein Wissenschaftler noch einige Tage. Er nimmt sich einen Mietwagen und fährt über Land. Gegenwart und Vergangenheit verschränken sich. Erinnerungen an einen Urlaub mit – erneut, das scheint Powers zu umtreiben – kindlichem Verrat. Einige seltsame Begegnungen folgen.

Der Wissenschaftler wird schreckhafter. Schließlich kriecht er in ein archäologisches Denkmal, eine alte Grabkammer. „Ich ließ den Kopf in den Sand sinken und musterte die Unterseite des Decksteins, schwarz und kupferrot gestreift. Ich streckte eine Hand aus und presste sie an den kalten Stein, der sich glatt anfühlte.“

Später sagt er: „Es gibt Augenblicke im Leben, da begreifen wir, was es bedeutet zu sterben. Wenn wir Glück haben, vergessen wir sie wieder, mein Glück aber hat mich verlassen.“ Kurzgeschichten müssen alles Belanglose abstreifen. Chris Power ist das fast beunruhigend souverän gelungen.

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