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Kultur: Es lebe der Zweifel

Nein, es herrscht kein Mangel an Religion – es gibt immer noch viel zu viel davon. Wir müssen uns endlich von falschen Gewissheiten befreien / Von Michael Rutschky

Einmal, beim Schwimmen in dem Hallenbad am Berliner Sachsendamm, wusste ich für eine halbe Minute, dass ich an Gott den Allmächtigen glaube.

Große Erleichterung, als die halbe Minute vorbei war. Denn die Gewissheit – eine absolute Gewissheit – begleitete eine ungeheure Angst vollkommen gestaltloser Art. Im Lehrbuch könnte man vermutlich nachlesen, wie sich in haargenau dieser Manier ein schizophrener Schub ankündigt.

Was den Schrecken verbreitet, das ist das Absolute der Gewissheit. Normalerweise umkleiden einen leise oder lautere Zweifel. Das Kontingenzbewusstsein schwächt sie ab; stets weiß man, dass die Dinge auch anders liegen könnten, und das fördert im Alltagsleben die Tugend der resignativen Toleranz, der die moderne Welt so viele ihrer Annehmlichkeiten verdankt. Ob die wundersame Zellvermehrung, die in jener schönen Nacht ohne Absicht eingeleitet wurde, als Embryo ausgetragen und als Menschenkind geboren werden soll – Sie müssen es selbst entscheiden, Sie müssen durch das Für und Wider hindurch! Keine Autorität verkündet die Entscheidung und erstickt jeden Zweifel, und deshalb dürfen heute so viele Kinder in dem Urvertrauen aufwachsen, ihre Eltern hätten sie wirklich gewünscht.

Dagegen müssen die Zeiten, wo der Glaube an Gott mit absoluter Gewissheit herrschte, furchtbar gewesen sein. Es gab keinen Denkraum – wie der Kunsthistoriker Aby Warburg das nennt – zwischen Ich und Welt; allüberall manifestierte sich unmittelbar der Wille des Allmächtigen.

Vermutlich kann man die Religionsgeschichte als mühsame Ablösung von jener absoluten Gewissheit erzählen, eine Ablösung, die niemals vollständig gelingt, die in vielerlei Regressionen immer wieder zum Stehen kommt, die den Glaubensmächten – wie gerade die Gegenwart lehrt – Transformationen bis zur Unkenntlichkeit gestattet, was womöglich zu ihrer Sänftigung beiträgt. Einst musste man sich im Tempel bis zur Bewusstlosigkeit blutig schlagen, um Gehorsam zu bezeugen; heute unterwirft man sich bei einem Therapeuten einem Entspannungsritual angeblich ostasiatischer Provenienz – wobei wir nicht vergessen wollen, dass man sich immer noch fromm blutig schlagen kann, bei den Schiiten ebenso wie bei den katholischen Penitentes in Spanien.

In unserer Gegend belehrt über die anhaltende Wirkkraft der Glaubensmächte aber vor allem die wimmelnde Vielfalt der Therapieszene, wie sie der Kleinanzeigenteil jeder Stadtillustrierten demonstriert, eine Entwicklung der religiösen Energie, die der wahrhaft freie William James 1905 prognostiziert hat, aus dem Gottesglauben wird mental health.

Nein, die Welt ist nicht entzaubert. Jeder Besuch in einem Autosalon lehrt, was der Auslegungstradition zufolge mit dem Goldenen Kalb gemeint war. Was den Sozialismus vernichtete, war nicht zuletzt der Polytheismus der kapitalistischen Warenwelt, mit dem immer mehr sozialistische Bürger in Berührung kamen. In Tränen der Ergriffenheit brach unsere Freundin C. aus, als sie bei einer ersten Westreise das erhabene Karstadt betrat.

Wer dem Glanz und den Reizen der Warenwelt, des Goldenen Kalbes abschwört, ist damit den Glaubensmächten keineswegs entronnen, im Gegenteil. Denn dies ist ja eine der elementaren Haltungen, in denen sich das Religiöse ausgibt: Mein Reich ist nicht von dieser Welt – diese Welt ist durch und durch falsch, ein Trugbild. Aber eine andere Welt ist möglich...

So faszinierend Jan Assmanns Konzept von der mosaischen Unterscheidung ist (Tagesspiegel vom 11. April) – nämlich dass erst mit ihr ein wahrer Gott alle falschen zu überwinden sich anschickt: ich stelle es mir doch so vor, dass stets die Glaubensmächte respektive ihre Anhänger miteinander im Streit lagen und um Dominanz kämpften. Jede Glaubensmacht unterliegt der monotheistischen Versuchung. Resignative Toleranz muss es gewesen sein, die das römische Imperium in religiöser Hinsicht auszeichnete, dass jeder nach seiner eigenen Fasson selig werden möge, weil sich keine singuläre Glaubensmacht als Monotheismus durchsetzen ließ. Dann kam das Christentum und wurde Staatsreligion, und es dauerte eine Weile und kostete viele Glaubenskriege, bis wir wieder bei der Toleranzregel angekommen waren.

Nein, wir leben in keiner entzauberten Welt. Gegenwartsdiskussionen über den gesellschaftlichen Mangel an Religion führen in die Irre – es gibt immer noch viel zu viel davon. Der Politologe Eric Voegelin hat die politischen Religionen entdeckt – und Nationalismus ebenso wie Kommunismus als solche analysiert: In der Gegenwart konnten wir anhand der Rote-Armee-Fraktion beobachten, wie die absolute Gewissheit, dass diese Welt grundfalsch und eine andere möglich ist, für die ich mich opfern muss, erhebliche Zerstörungs- und Selbstzerstörungsenergien freisetzt. Religiöse Energien, die der Nationalismus in der notorischen Schlacht bei Langemarck mit ihrem sinnlosen Jungmänneropfer und der Stalinismus mit seinen Säuberungen entbanden. Was die islamistischen Terroristen treibt, war uns also vor kurzer Zeit noch wohlvertraut – wenn wir’s nicht sogar bewunderungswürdig fanden.

Als Remedur empfahl Eric Voegelin die Rückkehr nach Rom, und tatsächlich findet sich in vielen Gegenwartsdiskussionen über das Religiöse offen oder verdrückt, vorsichtig oder hochfahrend dieser Gedanke: Eigentlich müssten wir, um das quälende Kontingenzbewusstsein in allen Fragen abzustreifen, zur Einheit der Kirche zurückfinden. Gerade das Feuilleton kokettiert im Augenblick gern mit diesem Gedanken (seit je ist dem Feuilleton seine eigene Koketterie mit jedem Gedanken, der vorbeikommt, tief suspekt, und es verlangt nach neuer Glaubensgewissheit – dabei ist das Feuilleton der Vorreiter des modernen Kontingenzbewusstseins).

Ich halte die Rückkehr nach Rom für keine gute Idee. Zum einen geht es um keine pragmatische Entscheidung, wie alle überzeugenden biografischen Exempel für Konversion zeigen. Die Glaubensmacht ergreift dich; und nicht umgekehrt. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die Heraufkunft der Moderne, die sukzessive die Glaubensmächte zurückdrängte, wie sie die römische Kirche kanonisiert und organisiert hatte, ein Segen war.

Die Kirchengeschichte ist lange ein schierer Gräuel, und man kann ausgiebig darüber diskutieren, ob nicht die politischen Religionen des 20. Jahrhunderts mit ihren schaurigen Säuberungsmaßnahmen diese Technik der Kirche abgeguckt haben. Ich halte es für einen wahren Fortschritt, der verteidigt zu werden verdient, dass der Kardinal Meisner und seinesgleichen keinen direkten und politisch garantierten Zugriff auf das Liebesleben der Bürger haben; dann wären bekanntlich sogar Kondome verboten. Der Fortschritt haftet am Kontingenzbewusstsein. Die einen mögen sich am Ende die Letzte Ölung wünschen, die anderen die Spritze mit dem Barbiturat. Dass die Kirche der Hüter des guten und wahren Lebens sei, ist einfach zum Lachen; alles, was gut und wahr ist an unserem Leben, verdankt sich der Lösung von ihrer umfassenden und eingreifenden Autorität; auch sie musste sich in eine der vielen konkurrierenden Glaubensmächte verwandeln. Die Individualisierung des Glaubens durch den Protestantismus ist irreversibel.

Aber Gegenwartsdiskussionen über das Religiöse gehen, wie mir scheint, ohnehin an den interessanteren Problemen vorbei, wenn sie sich an das kirchlich verfasste Christentum und seine Macht (oder den Mangel daran) halten. Wie gesagt, die Welt ist alles andere als entzaubert; überall wesen die Glaubensmächte. Nützlich wäre ihre eingehendere Beschreibung.

Der Autor lebt als Essayist und Soziologe in Berlin. Von ihm erschien soeben „Wie wir Amerikaner wurden“ (Ullstein).

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