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Kultur: Ewiger Putsch

Carla Guelfenbeins Roman „Nackt schwimmen“.

Die Frage ist, ob dieser Roman von Carla Guelfenbein zwingend notwendig vor dem Hintergrund des Militärputsches in Chile 1973 hätte angesiedelt werden müssen. Interessanter wird „Nackt schwimmen“ dadurch natürlich, farbiger, dramatischer. Aber wirklich durchdringen wollen sich die komplizierte, mit viel Gefühlsschmackes erzählte Liebes- und Familiengeschichte und die politischen Ereignisse nicht; erst recht nicht, als im kürzeren, zweiten Romanteil die Überlebenden auch noch im September 2001 ihre Erinnerungen und Verhältnisse sortieren. Da ist viel Willkür mit im Spiel, die Wahl des Zeitraumes erschließt sich kaum noch, außer dass die durch die Anschläge auf das World Trade Center herbeigeführte Zeitenwende der nuller Jahre genau an dem Tag des Jahres begann, der 28 Jahre zuvor auch zum Schicksalstag Chiles wurde.

„Nackt schwimmen“ setzt 1971 ein, mit der Schilderung der Freundschaft der beiden gleichaltrigen weiblichen Hauptfiguren: der spanischen Diplomatentochter Morgana und der in Paris aufgewachsenen Kunststudentin Sophie, die seit kurzem bei ihrem Vater Diego in Santiago de Chile lebt. Die Mittzwanzigerinnen wohnen in demselben Hochhaus in Providencia, und es kommt, wie es kommen muss: Morgana verliebt sich in Diego, der ein enger Berater von Salvador Allende ist. Als Morgana ein Kind von ihm erwartet, erzählt Diego seiner Tochter von der Liebschaft, und Sophie kehrt Chile den Rücken. Der Putsch aber zerstört auch Liebe und Leben von Morgana und Diego.

Guelfenbein vermag es gut, sich in ihre weiblichen Helden psychologisch einzufühlen; auch die Atmosphäre in Santiago vor und während des Putsches mit den Demonstrationen, den Straßenschlachten, dem berühmten Lastwagenfahrerstreik und dem Versorgungsmangel vermittelt sie geschickt. Trotzdem hat man bisweilen den Eindruck von Kulissenschieberei. Diese mal einfühlsame, mal etwas kitschige Beziehungsgeschichte mit ihren Lügen und Geheimnissen braucht nicht unbedingt ein politisch-historisches Setting. Besser als mancher Isabel-Allende-Roman ist sie allemal.

Chile ist weit weg und die Fernsehbilder der einstürzenden Zwillingstürme allgegenwärtig, als sich am Ende zwei Schwestern begegnen: Sophie – und die auf einer Baleareninsel lebende Antonia, Tochter von Morgana und Diego. Mit Sophies vorsichtigen Familienenthüllungen bekommt Antonia das Gefühl, „als wäre die Wirklichkeit plötzlich eine dünne Hülle geworden, die jeden Moment einreißen und alle Gewissheiten auslöschen könnte, auf denen ihr Leben beruht.“ Womöglich gilt das auch für Carla Guelfenbein selbst, die 1959 in Santiago de Chile geboren wurde und nach dem Putsch nach England emigrierte. Inzwischen lebt sie wieder in ihrer Heimat, und zumindest für ihre Romanstoffe scheint ihr Chiles Vergangenheit wirklicher und gewisser als seine Gegenwart. Gerrit Bartels

Carla Guelfenbein

Nackt schwimmen.

Roman. Aus dem

Spanischen von

Angelica Ammar.

Verlag S. Fischer, Frankfurt/Main 2012. 302 Seiten, 19,90 €.

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