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Kultur: Fallende Mädchen

Auf dem Weg nach „Middlesex“: Jeffrey Eugenides’ skurriler Erstling „Die Selbstmord-Schwestern“

Erstlingsromane, die ihren zu Pulitzer-Preisträgern avancierten Schöpfern hinterherrufen, haben es schwer. Das musste schon Jonathan Franzen mit seinem Debüt „Die 27ste Stadt“ erleben, das er vergangenes Jahr den berühmten „Korrekturen“ nachreichte. Wenn ein Erstling vor zehn Jahren schon einmal in einer ungelenken Übersetzung erschienen und durchgefallen ist und später durch die modulierenden Hände einer bekannten Regisseurin gegangen ist, liegt der Fall noch schwerer. Was Jeffrey Eugenides mit den „Selbstmord-Schwestern“ vorgelegt und was Sofia Coppola später aus dem Buch gemacht hat, sind zwei Dinge. Aber liegen zwischen dem Pulitzer-gekrönten Roman „Middlesex“ und dem pubertär gefärbten Erstling literarische Welten?

Die Geschichte von Caliope, die sich in „Middlesex“ mit der Last einer intersexuellen Identität herumschlägt und die der selbstmordgeweihten Lisbon-Mädchen hat Parallelen: Wer bin ich?, wohin gehöre ich?, wie werde ich sein? – so stellt sich das Personal den nie versiegenden Sinnfragen der Jugend. Nur dass es in den „Selbstmord-Schwestern“ noch kein personifiziertes „Ich“, keinen zwischen weiblich und männlich oszillierenden, die Generationen überblickenden Erzähler gibt, sondern ein zweifaches „wir“. Auf der einen Seite steht die pubertierende, konkurrierende Jungen-Gruppe, auf der anderen die fünf abgeschirmten, streng behüteten Vorstadt-Mädchen: „Wir wussten, dass die Mädchen unsere Zwillinge waren, dass wir alle wie Geschöpfe der gleichen Haut im Raum existierten und dass sie alles über uns wussten, während wir sie nicht ergründen konnten.“ Hinter Fenstern versteckt, von Dächern herunter und sogar unterirdisch verfolgen die Jungen mit Argusaugen, wie die Angebeteten immer mehr hinter den Mauern des Lisbon-Hauses verschwinden und eine nach der anderen in den Freitod flieht.

Während die Jungen, mit Ausnahme des Außenseiters Trip, ganz gesichtslos bleiben und nur als erzählendes Wir figurieren, kristallisieren sich von den Lisbon-Schwestern imaginäre „Kerne“ heraus, die christlich-mythische Versatzstücke aufrufen. Aber sie bleiben ungreifbar, geheimnisvoll, „wie hinter Glas“. Die kleinen Sherlocks sichern akribisch Beweisstücke – Fotos, Tagebuchfetzen, Dokumente, „Devotionalien“ –, sie sprechen mit allen, die die Mädchen gekannt haben, lesen die einschlägige psychopathologische Literatur – um den Selbstmorden einen Sinn abzuringen.

Allem „Expertenwissen“ zum Trotz, die der Autor wie später in „Middlesex“ auffährt, gelingt es den Jungen nicht, einen „vernünftigen“ Grund für den Tod der Mädchen zu finden, außer, dass sie „keine Lust gehabt hatten, „die Welt so zu akzeptieren, wie sie ihnen übergeben worden war“. Im kollektiven Gedächtnis gerinnt der Tod der Mädchen zu einem Zeichen: „Die Lisbon-Mädchen wurden zum Symbol dessen, was im Land schief lag“. In dieser ironisch gewendeten Überdeterminiertheit liegt das Problem des Romans: Wenn Mädchen fallen wie gefällte Ulmen, werden sie vom Autor nicht mehr ernst genommen. Seiner Caliope erwies er mehr literarischen Respekt.

Dieses Buch bestellen — Jeffrey Eugenides: Die Selbstmord-Schwestern. Aus dem Amerik. von Mechthild Sandberg-Ciletti. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 256 Seiten, 17,90 €.

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