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West Side Story: Fast so gut wie das Original

Bei dem Choreografen und Regisseur Joey McKneely sieht Leonard Bernsteins „West Side Story“ noch genauso aus wie 1957. Gecastet wurde in New York, ab 24. Juni gastiert seine Show in der Deutschen Oper Berlin.

Es wuselt in den Gängen und Fluren der Pearl Studios im Zentrum von Manhattan. Viele, die zum Vorspielen hierher kommen, wünschen sich zwei Blocks weiter, an den Broadway. Sie sind zwischen 18 und 22 Jahre alt und warten mit dem Kaffee in der Hand, einige unterhalten sich aufgeregt, andere gehen noch mal nervös ihre Rolle durch, aber in allen Augen flimmert die Hoffnung: Heute kriege ich ein Engagement, heute schaffe ich es.

Joey McKneely hat das alles schon hinter sich. Er sitzt am Tisch, vor ihm fünf Tänzer, angespannte Muskeln, Schweiß auf der Stirn, die Fenster sind beschlagen: „The Jets are gonna have their day tonight/The Puerto Ricans grumble/Fair fight/But if they start a rumble/We’ll rumble ’em right“, singen sie. McKneely hat das schon 20 Mal an diesem Vormittag gehört, und trotzdem lauscht er aufmerksam. Er ist Choreograf und Regisseur der „West Side Story“, die ab 24. Juni als Gastspiel in der Deutschen Oper Berlin zu sehen sein wird. Die Tourneeproduktion ist schon zehn Jahre alt, wird aber immer wieder aufgefrischt. Mit jungen Darstellern, die vom Alter her möglichst nah dran sind an den „Jets“ und den „Sharks“, jenen verfeindeten Jugendgangs, die in der Upper West Side gegeneinander kämpfen und dabei nicht merken, wie sie die Liebe eines jungen Paares zwischen den Fronten zerreiben. „Danke“, sagt McKneely und schickt die fünf Tänzer erst mal wieder raus. Fünf von 120. So viele wurden ausgewählt, um in den Pearl Studios zu zeigen, ob sie fit sind für den Job.

Jede künstlerische Gattung kennt einen Höhepunkt. Das Musical hat sie relativ früh erreicht: 1957 mit der Uraufführung der „West Side Story“. Die Bilder von hitzköpfigen Immigrantenkids, von Tony und Maria auf der Feuerleiter und hilflosen Polizisten in schmutzigen Hinterhöfen kennt jeder. Natürlich gab es Vorläufer, in Amerika wie in Europa, Vaudeville und Burlesque, die Wiener und Pariser Operette, die Werke von Kurt Weill. Aber nie zuvor – und nie wieder danach – ist es gelungen, Musik, Tanz und Story in einem Musical so bezwingend zusammenzubringen.

Verantwortlich dafür war ein junges Team aus Leonard Bernstein (Musik), Arthur Laurents (Text), Stephen Sondheim (Songtexte) und Jerome Robbins (Choreografie). Der Erfolg hat natürlich auch damit zu tun, dass die Vorlage auf einen gewissen William Shakespeare zurückgeht. Aber die Idee von Robbins, „Romeo und Julia“ aus Verona ins New York der Gegenwart zu verlegen, erwies sich als Geniestreich. Am Ende gibt es drei Leichen, und Maria, die im Gegensatz zu Shakespeares Julia überlebt, nimmt den Revolver, der Tony getötet hat. Wird sie den gleichen Weg der Gewalt gehen? Ein Ende, das sich jeder Versöhnung verweigert und gerade deshalb so stark nachwirkt.

Das Stück ist seit 1957 unzählige Male inszeniert worden, hinzu kommt die Verfilmung von 1961, die zehn Oscars abgeräumt hat. Was jetzt an der Deutschen Oper zu sehen ist, nennt sich „Originalproduktion“. Die Ironie dabei: Die Amerikaner selbst bekommen dieses Original nie zu Gesicht. Denn es handelt sich um eine deutsche Produktion von Michael Brenner, die vor allem durch Europa tourt. Brenner, Gründer der Produktionsfirma „BB Promotion“, war ein Impresario alter Schule, der – ähnlich wie Georg Friedrich Händel in London 200 Jahre zuvor – künstlerische Veranstaltungen nicht nur organisierte, sondern auch finanzierte. Vergangenes Jahr kam er bei einem Verkehrsunfall ums Leben.

„Original“ ist seine Produktion vor allem wegen der Choreografie. „Die Story wird im Tanz erzählt, Tanz ist absolut essenziell für das Werk“, sagt Joey McKneely. Er ist einer von weltweit drei Choreografen, die die originalen Bewegungsabläufe von Jerome Robbins einstudieren dürfen. Einst hat er selbst für ihn getanzt, 1989 war das, er war 19 Jahre alt und der jüngste „Jet“ in einer Hommage an Robbins. Sechs Monate hat er damals den legendären, 1998 verstorbenen Choreografen hautnah erlebt. Seither ist „West Side Story“ zu seinem Lebensinhalt geworden. Dabei wurde aus dem heute 42-Jährigen so etwas wie der Lordsiegelbewahrer der Tradition: „Robbins’ Choreografie ist unübertroffen direkt und eindeutig, sie drückt die Emotionen der Jugendlichen schlüssig aus, da gibt es nichts zu verbessern“, sagt er.

2009 hat er für Arthur Laurents, den Textautor von 1957, ein „Broadway Revival“ des Stücks choreografiert. Laurents wollte Änderungen in den Bewegungsabläufen, einen frischen, modernen Blick, eine „West Side Story“ fürs 21. Jahrhundert. Man spürt, das McKneely sich dabei nicht wohl gefühlt hat. Zwischen zwei Meistern sei er gefangen gewesen, erzählt er und nennt das Ganze einen „Seiltanz“. Laurents starb 2011, McKneely ist wieder zur Originalchoreografie zurückgekehrt.

Zur Seite steht ihm dabei Dirigent Donald Chan, der Bernstein noch persönlich getroffen und „West Side Story“ so oft dirigiert hat wie kein anderer. Bis heute schwärmt Chan von der Partitur, die es so mitreißend versteht, Jazz-Standards, lateinamerikanische Tänze und weitausgreifende, streicherunterlegte Arien („Maria“, „Somewhere“) zu verschmelzen, die mit Fugen arbeitet und in „Tonight“ ein Quintett herbeizaubert, wie es Verdi auch nicht besser hätte machen können. Mit anderen Worten: Eben die Sternstunde der Gattung.

Deutsche Oper, 24. Juni - 8. Juli.

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