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Lebe wild und gefährlich. Lola Créton im Film „Après Mai“.

© Filmfestival Venedig

Filmfestival von Venedig: Jungs von gestern, Mädchen von heute

Zweimal geht es um Jugendliche, doch die beiden Filme könnten unterschiedlicher kaum sein: In "Après Mai" beschreibt Olivier Assayas eindrücklich die Atmosphäre im Frankreich des Jahres 1971. Harmony Korine dagegen bleibt bei "Spring Breakers" über amerikanische College-Girls von heute sehr an der Oberfläche

Der Film sei ja ganz schön, sagt die italienische Journalistin bei der Pressekonferenz, aber die jungen Leute darin: Alle so traurig! Finden Sie?, fragt der Regisseur, es sind doch eher Zartheit, Liebe und erst dann Melancholie, die meinen Film grundieren und die ich aus jener Zeit selber erinnere. Und übrigens, heute tendiert das Kino merkwürdig dazu, die Jugend superkomisch vorzuführen, fast wie in einer Karikatur.

Die Geschichte, von der Olivier Assayas in „Après Mai“ erzählt, ist lange, lange her. Damals, 1971, trugen Jugendliche selbst gebatikte T-Shirts und kratzige Wolltaschen aus dem Nepal-Shop, oder sie waren in blassgrünen Parkas und blassblauen, engen VW-Bussen unterwegs, mit riesigen Reserverädern vorne drauf. Drei Jahre nach ’68 machten sie noch ein bisschen Revolution, indem sie sich auf Demos mit der Polizei prügelten, oder sie reisten viel, liebten viel und trennten sich viel, und manche nahmen auch viele Drogen droben in Nepal und anderswo. Und wenn sie nicht gestorben sind, wurden sie erwachsen. Ja, sogar sie.

Es ist die Jugend des 1955 geborenen Assayas, und der Franzose evoziert sie äußerst sehnsuchtsvoll, ohne dabei – ein Kunststück für sich – auch nur ein Fitzelchen sentimental zu sein. Acht junge Schauspieler, alle unter 20, hat er um sich geschart, und mit feiner Hand inszeniert er ein, zwei Jahre Leben – jene Jahre, in denen sich, ohne dass einem das währenddessen bewusst wäre, das Wesentliche entscheidet. Gilles (Clément Métayer) und Alain (Félix Armand) wollen Maler werden, Gilles liebt erst Laure (Carole Combes) und dann Christine (Lola Créton), die für einen Agitprop-Filmverleih zu arbeiten beginnt, und Alains Hippie-Freundin Leslie (India Salvor Menuez) kehrt, nachdem sie zwecks Abtreibung in Holland war, nicht zu Alain zurück, sondern nach Amerika. Und Gilles?

Gilles, Assayas’ jüngeres Ego, geht zum Film. Zum handgemachten Godzilla-Horror-Nazifilm, als sei’s ein frühes Bastelstück von Quentin Tarantino. Er jobbt in den Londoner Pinewood Studios, und irgendwann wird er zur langsam aus der Szenerie sich entfernenden Schattensilhouette hinter der Leinwand. Wie ungemein persönlich ist „Après Mai“, und schon deshalb ungemein wahr. So viele ’68er und Nach-’68er-Filme liefen rund um das 40. Jugendjubiläum einer ganzen Generation in den Kinos, so viel Plakatives („Der Baader Meinhof Komplex“) oder auch bloß Dekoratives („The Dreamers“) drängte da zur Deutungshoheit. Assayas dagegen ist bloß genau. Und erzählt. Sehr viel mehr braucht es nicht, um einen tollen Film zu drehen.

In Venedig wird „Après Mai“ dieser Tage eher durchgewinkt. Die politischen Ernüchterungen von damals: wen kümmert’s? Die Freiheit der Jungen, denen die Welt offen stand: wie fremd. Der funkelnde Intellekt, mit dem Assayas auf dem Podium für seinen Film einsteht: irgendwie sehr 20. Jahrhundert. Und doch ist diese Arbeit über die Jugend von gestern den meisten jener Festivalfilme weit überlegen, mit denen andere Regisseure ihre Welt – oder genauer: ihre Welt als unsere Welt – erklären wollen.

Der amerikanische Undergroundfilmer Harmony Korine, berühmt geworden durch sein Drehbuch zu Larry Clarks „Kids“ (1995), erzählt von Mädchen von heute, und das deftig. Candy (Vanessa Hudgens), Brit (Ashley Benson) und ihre Freundinnen sind College-Girlies, die vom Spring Break träumen, jenem karnevalesken Ausnahmezustand, bei dem die Jugend sich in Florida zwecks Ballermann-Sex vereint. Bekleidet sind die Candys und Brits meist allenfalls mit rosa oder neongelben Bikinis; manchmal kommen schwarze oder rosa Strumpfmasken hinzu, sofern es das Reisetaschengeld bei Überfällen aufzubessern oder einen bösen Clanchef kaltzumachen gilt. Denn bei ihrer Busfahrt ins Abenteuer haben sie den Goldzahn-Gangster Al alias Alien (James Franco) kennengelernt, und so kommen zu den sexuellen Schlüsselreizen, zu Kiffen und Koksen und Whisky und Wodka noch jene von Dollarbündeln und Maschinenpistolen hinzu.

In der ersten Hälfte des denn doch langen 88-Minuten-Deliriums „Spring Breakers“ wird gefeiert bis zum Umfallen, in der zweiten geht es gefährlicher zu, wobei ein Mädchenoberarmdurchschuss sowie mehrere Männerleichen zu beklagen sind. Insgesamt ist das so lustig wie mancher Tarantino-Pulp und, sorry, so leer. Denn die Spring Breakers haben nichts zu verlieren als ihre – körperliche – Jugend; also lassen sie es vorher ordentlich krachen. So weit die Karikatur. Die Figuren bei Olivier Assayas dagegen haben nichts zu verlieren als ihre Illusionen; also beobachtet er ihre oszillierenden Suchbewegungungen und Erkenntnisprozesse. Was, nebenbei gesagt, sehr sexy sein kann.

Wo aber bleiben die Religionen dieser Welt, das Leitmotiv dieser 69. Mostra? „Spring Breakers“ enthält immerhin eine besonders junge Betschwester namens Faith (Selena Gomez), die ein „ganz schlechtes Gefühl“ hat und vorzeitig heimfährt. Ansonsten liegt derzeit, von Kim Ki-duks (selbst-)mörderischer Schuld-und-Sühne-Parabel „Pietà“ bis zu Marco Bellocchios zerquasselter Sterbehilfe-Seifenoper „La bella addormentata“, der Katholizismus vorn. Wenn der Goldene Löwe seine Krallen ordentlich faltet, sollte der globale Gebetsfilm am Wochenende zumindest statistisch guter Hoffnung sein. Jan Schulz-Ojala

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