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Kultur: Fliegst du noch oder liebst du schon?

Den „Holländer“ gibt es zweimal: jenen von Richard Wagner und den von Pierre-Louis Dietsch. Marc Minkowski stellt nun erstmals beide Werke in der Opéra Royal von Versailles gegenüber.

500 Francs – im Paris des Jahres 1841 ist das eine Menge Geld. Vor allem für einen mittellosen, unbekannten Komponisten. Also verkauft Richard Wagner seine Idee zum „Fliegenden Holländer“ an Léon Pillet, den Intendanten der Pariser Oper, nimmt den Lohn und mietet sich ein Klavier. Auf dem er dann seinen eigenen „Holländer“ komponiert. Immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass gerade auch ein anderer an dem Stoff sitzt. Pierre-Louis Dietsch nämlich, der Protégé des Operndirektors. Für den 1808 in Dijon geborenen Musiker, den er gerade als Chordirektor engagiert hat, wollte Pillet den Librettostoff haben. Was, denkt Wagner, wenn sein Konkurrent schneller fertig wird, wenn dessen Oper Erfolg hat – und damit sein Stück blockiert, weil kein Theater direkt nacheinander zwei „Fliegende Holländer“ ins Programm nehmen wird?

Die Uraufführung von Pierre-Louis Dietschs „Le vaisseau fantôme ou Le maudit des mers“ (Das Geisterschiff oder Der Verdammte der Meere) findet dann tatsächlich zwei Monate vor Wagners Dresdner „Holländer“-Premiere statt, im November 1842. Doch das Werk bringt es an der Pariser Opéra gerade einmal auf elf Vorstellungen, danach wandert es ins Archiv des Hauses. Dem Deutschen aber gelingt ein erstes Meisterwerk, das heute zum Kernrepertoire der Bühnen weltweit gehört.

Nun hat Marc Minkowski die beiden „Holländer“-Vertonungen erstmals an einem Abend gegenübergestellt, mit seinen Musiciens du Louvre, im atemberaubend schönen barocken Opernhaus, das Ludwig XV. 1770 ins Versailler Schloss einbauen ließ. Für Minkowski war es die erste Begegnung mit dem Bayreuther Meister, für das Publikum die erste mit Pierre-Louis Dietsch. Was die Tiefenauslotung des Wagnerwerks betrifft, hat der umtriebige französische Dirigent durchaus noch Entwicklungspotenzial. Mit der Wiederaufführung des „Vaisseau fantôme“ nach 171 Jahren aber schlägt er jeden im Saal in seinen Bann. Eine frische, ideenreiche, elegant instrumentierte Musik ist da zu erleben, ebenso eingängig-melodieselig wie emotional-feurig, kurz, eine Partitur, die alles vereinigt, was dem Pariser Publikum in der Mitte des 19. Jahrhunderts lieb und teuer ist: Da gibt es kecke Couplets vom Kapitänsvater, die nach Offenbach klingen, da singt der Tenor eine sentimentale Romanze im Opéra-Comique-Stil, da trumpfen die Chöre im Marschrhythmus auf wie bei Meyerbeer, da wird ein Gewitter hübsch klangmalerisch in Musik gesetzt wie in Rossinis „Cenerentola“.

Bevor er an die Pariser Opéra kam, hatte Dietsch sein Brot als Kontrabassist in dem von Gioacchino Rossini geleiteten Théatre Italien verdient – und dabei gut zugehört: Darum kann er seiner Minna – wie Senta im „Vaisseau fantôme“ heißt – eine echte Primadonnen-Bravournummer in den Mund legen, mit vielen Koloraturen und einer effektvollen Alla-Polacca-Stretta. Der unglückliche Holländer wiederum, der hier ein Schwede ist, äußert sich in so sanften, weichgezeichneten Kantilenen, als sei er einer Oper von Charles Gounod entsprungen.

Natürlich zeigt sich an so einem Abend, wie unglaublich konsequent Richard Wagner schon beim „Fliegenden Holländer“ seine Ideen vom Kunstwerk der Zukunft umgesetzt hat. Er steht an der Speerspitze der Avantgarde, Dietsch repräsentiert dagegen die Konvention, den Zeitgeschmack. Aber eben auf kurzweilige, stilistisch effektvoll buntscheckige Art. Dass seine Oper 1842 durchfiel, kann nicht an der Musik gelegen haben – anders jedenfalls mag man nach der mitreißenden Versailler Vorstellung mit den glutvoll aufspielenden Musiciens du Louvre, dem beeindruckend klangstarken estnischen Kammerchor und einer exquisiten jungen Solistentruppe nicht denken.

Verblüffend ist dagegen, wie wenig der französische Librettist Wagners Grundidee des Stückes erfasst hat. Das Neuartige in der Dramaturgie des „Fliegenden Holländers“ ist, dass hier ein dämonischer Mann ins Leben eines bürgerlichen Paares einbricht – und am Ende nicht das Gute siegt, also Tenor und Sopran in der Ehe vereint werden, wie sonst in der romantischen Oper. Stattdessen gibt sich die Heldin bedingungslos dem Fremden hin, opfert sich, um ihn durch diese Mitleidstat von einem mysteriösen Fluch zu erlösen. Im „Vaisseau fantôme“ dagegen geht alles ganz konkret zu, wird der Holländer zum Kapitalverbrecher, der einst seinen Steuermann erschlug. Von dieser Missetat hat er eine Wunde zurückbehalten, die er unbeabsichtigt vorzeigt, als er nach dem Ehering greift, den ihm Minna hinhält. Wenn sie sich dann trotzdem zu ihm bekennt, handelt sie moralisch verwerflich. Zumal bei Dietsch ständig von Gottes Geboten geredet wird, während es bei Wagner stets um den Satan geht.

„Solche Entdeckungen lohnen sich nur, wenn sie auf allerhöchstem Niveau präsentiert werden“, betonte Alexandre Dratwicki in Versailles, der künstlerische Leiter der Stiftung „Palazetto Bru Zane“, die seit 2009 für die Revitalisierung der romantischen Musik Frankreichs eintritt. Bleibt zu hoffen, dass auch die Berliner Aufführung von Dietschs Oper am 4. Juni so glänzend glückt, wenn sich der Dirigent Enrique Mazzola und das Ensemble der Deutschen Oper im Konzerthaus des „Vaisseau fantôme“ annehmen.

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