zum Hauptinhalt

Kultur: "Fortschritt & Geschichte" - ein grundsätzlicher Millenniumsrückblick

Kein Jahrbuch, fast schon ein Jahrhundertbuch diesmal von der Zeitschrift "Theater heute". Der Titel greift wolkig hoch: "Fortschritt & Geschichte" (Theater heute, Das Jahrbuch 1999, Friedrich Verlag, 36 Mark).

Kein Jahrbuch, fast schon ein Jahrhundertbuch diesmal von der Zeitschrift "Theater heute". Der Titel greift wolkig hoch: "Fortschritt & Geschichte" (Theater heute, Das Jahrbuch 1999, Friedrich Verlag, 36 Mark). Fortschritt im Theater? Ist das nicht ein Widerspruch? Die Broschur, knapp 180 Seiten, eröffnet den Rückblick, der wegen des Millenniums noch etwas grundsätzlicher als gewohnt ausfällt, mit einer langen Strecke ganz- und doppelseitiger Aufführungsfotos. Da möchte man das Lob der Schwarzweiß-Fotografie anstimmen in Zeiten des Pop. Und darum geht es auch in einem der längeren Essays. Diedrich Diedrichsen, der "berühmteste deutsche Pop-Theoretiker" (Theater heute), hat sich ein paar Monate lang Theater angetan und konstatiert am Ende der Reise auf die Frage "Was hat Pop mit Theater zu tun?" einigermaßen erschöpft: "Pop ist eine kapitalistische Kultur, die auch radikal antikapitalistische Effekte und Momente hervorrufen kann, aber nur Momente. Unsere Theater sind sozialdemokratische Immobilien, die sich auf Momenthaftes nicht einlassen wollen oder können." Liest sich trotzdem ganz gut - auch weil der Pop-Professor gemerkt hat, dass hinter einer Theateraufführung ein hübsches, hartes Stück Arbeit steckt.

Bruch mit der Tradition aller Orten, zumal in Berlin, die verspielte Virtuosität einer neuen Generation sieht Günther Rühle, der ein deutsches "Theaterjahrhundert" Revue passieren läßt: "Die deutsche Szene ist so offen, so konventionsfrei wie nie zuvor. Auch Brechts Position ist geräumt." Allerdings hängen wir doch noch alle, so Rühle, an den Banden der NS-Zeit, die das Nachkriegstheater provozierte und, böse Dialektik, stark machte. Für die Jüngeren unter uns (und das sind die Leute, um die das Theater kämpfen muss) bilanziert Franz Wille das vergangene Jahrzehnt ("Im Kreml brennt noch Licht"). Castorf, Schleef, Marthaler: Die schlechtesten Jahre waren es wohl nicht. Diese "Geschichte" begann 1990 mit Heiner Müllers Berliner "Hamlet/Maschine" und Zadeks Wiener "Ivanov". Und sie endet, wie so viele Geschichten jetzt, bei Thomas Ostermeier an der Schaubühne. Die "Theater heute"-Redaktion (Barbara Burckhardt, Michael Merschmeier, Franz Wille) unterhält sich mit den jungen Theaterchefs Stefan Bachmann (vom Theater des Jahres, Basel), Matthias Hartmann (demnächst Bochum) und Ostermeier (Schaubühne). Und da wären wir wieder bei Pop & Kapitalismus. Ostermeier kann nicht die Gagen zahlen, die anderswo locker gezahlt werden, und man fühlt mit ihm, wenn er sagt: "Deshalb habe ich es in den letzten Tagen schon manchmal bereut, ein Theater zu leiten." Aber er glaubt daran, "dass sich nach einem guten Theaterabend die Sicht auf die Welt verändern kann". Das ist nicht Pop. Das ist wieder der Fortschritt. Und die schöne, alte Geschichte von der moralischen Anstalt. Als Rausschmeißer erzählen Christof Schlingensief, Hermann Beil, Peter Turrini, Libgart Schwarz, Tom Stromberg und andere witzige und weniger witzige Theateranekdoten. Und immer noch ist die Welt schwarzweiß. Nur der Marthaler-Titel und die Rückseite mit den Schauspielern des Jahres (Angela Winkler und Otto Sander) zeigen Farbe.Theater heute, Das Jahrbuch 1999, Friedrich Verlag, 36 Mark

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false