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Heise

© Berlinale

Forum: Gleich kommen die Panzer

Thomas Heises „Material“ liefert einen neuen und ungewöhnlichen Blick auf den Mauerfall - und den Tag vor dem 9. November 1989.

Es sind Reste, sagt er. Manche aber sind gar nicht übriggeblieben von Thomas Heises früheren Filmen, die haben noch nie zu etwas gehört. Es sind Notizen mit der Kamera. Andere schreiben Tagebuch, erklärt Heise, ich bin mit der Kamera losgegangen. Manchmal auch zur Arbeit.

So entstand jene Szene, ganz am Anfang von „Material“ als ein Theaterregisseur vor dem Pappmodell der Bühne seines gleich zu inszenierenden Stücks sitzt. Sehr lange macht er das und beinahe stumm. Es ist 1988 und Fritz Marquardt, einer der wichtigsten Regisseure der DDR, probt in Berlin Heiner Müllers „Germania Tod in Berlin“. Thomas Heise war lange Marquardts Assistent und er dachte, man sollte das einmal festhalten. Regisseur vor Bühnenmodell, kompromisslos nicht einverstanden. Als hinge am allerkleinsten Bühnendetail die ganze Welt. Macht sie auch, manchmal. Der Umgang mit den Kleinigkeiten verrät den Menschen. Und minimale Weichenstellungen führen auf unvermutete Geschichtsgleise. Seit 1989 weiß es jeder.

Heise spricht schon den ganzen Nachmittag über seinen Film, oben im Forum-Büro überm Weinhaus Huth. Eigentlich hätte er statt des Vier-Stunden-Films lieber einen Acht-Stunden-Film gemacht. Schon wegen der Intensität. Und das ZDF möchte „Material“, wenn es ihn im Fernsehen zeigt, eine Stunde kürzen. Aber nicht mit ihm. Im Grunde ist Thomas Heise noch immer überrascht, dass die Berlinale seinen Film wollte. Diesen etwas anderen Geschichtsfilm. Nicht nur, dass er auf lauter Nebenbühnen spielt. Er erklärt auch nichts. Wer sich, das was er sieht, nicht selbst erklären kann, versteht ohnehin nichts. Das ist das Credo des Dokumentarfilmers Heise („STAU – Jetzt geht’s los“, „Mein Bruder – We’ll meet again“).

Natürlich ist der Herbst 1989 die Mitte von allem. Und die Maueröffnung. Am 9. November, abends, geht Fritz Marquardt irgendwann einmal nachschauen, wo seine Schauspieler sind. Und die Bühnenarbeiter. Sie sind nicht zur Arbeit gekommen oder schon wieder weg. Im Westen sind die? Und dann laufen sie die Wilhelmstraße entlang, noch im Osten, sehen von fern die tanzenden Menschen auf der Mauer. So surreal war keines von Marquardts eigenen Theaterstücken. Der Regisseur sagte nur, sehr leise: „Gleich kommen die Panzer.“ Ein stärkeres Bild des Mauerfalls – es hat noch nie jemand gesehen – ist kaum denkbar. Heise, Jahrgang 1955, konnte es nie vergessen: Wie in einer Nacht die Erfahrung eines ganzen Lebens zerbricht. Marquardt, Jahrgang 1928, war fast noch ein Junge, als die Russen ihn nach Sibirien schickten. Und nun kamen ihre Panzer nicht.

Was für Gedanken einem kommen beim Anschauen des eigenen Materials. Der Tag vor dem 9. November 1989 war der 8. November 1989. Das Datum sagt keinem mehr was, aber Thomas Heise ist damals vor das Gebäude des Zentralkomitees der SED gelaufen, wo das Politbüro gerade sich selbst umbildete. Doch vor dem ZK stand jemand, den hatte da noch nie jemand dort gesehen: die Parteibasis. Wären da nicht Thomas Heises Aufnahmen – man würde nicht glauben, wie beredt diese Basis sein konnte, wie böse, wie unversöhnlich. Seit jenem Abend hat Heise den Verdacht, die Maueröffnung am nächsten Tag könnte doch viel absichtsvoller, berechnender gewesen sein als bisher gedacht: Abschaffung der Parteibasis durch Grenzöffnung. Noch ein wenig länger an der Macht bleiben, statt sich von den eigenen Genossen wegfegen zu lassen.

Die Geschichte, die große Absurdität. Immer wieder kehrt Heises Film zu Fritz Marquardt vorm Bühnenguckkasten zurück. Und plötzlich entlädt sich die unendlich spannungsvolle Halbstille in den zu probenden Satz eines Schauspielers: „Will er nicht aufstehen vor seinem König?“ – Marquardt und Heiner Müller (tiefer als der Schauspieler, abfallenden Tons): „Seinem KÖ-NIG. Noch mal.“ Ringsum zerfällt ganz leise die DDR, und dort auf der Probebühne beharren zwei Regisseure auf der einig richtigen Tonhöhe zweier Silben. Das Arbeiterkönigtum DDR geht zu Ende. Das Volk will auferstehen vor seinem KÖ-NIG.

14.2., 11 Uhr (Cinemaxx 4) u. 15.15 Uhr (Arsenal 1)

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