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Kultur: Frankreichs Buchkultur: Nabelschau: Die rentrée littéraire beginnt

Die großen Ferien sind vorbei, der Ernst des Lebens beginnt. In Frankeich heißt er la rentrée.

Die großen Ferien sind vorbei, der Ernst des Lebens beginnt. In Frankeich heißt er la rentrée. Leser und Rezensenten beenden hastig ihre Urlaubslektüre und wappnen sich für den Vulkanausbruch der rentrée littéraire. 557 Romane - einheimische und übersetzte - sind es diesmal, die die Verleger gleichzeitig auf den Markt werfen. Das ist deutlich mehr als im letzten (511) und im vorletzten Jahr (488). 76 davon sind Erstlingswerke. Für Karl Kraus waren Romane "das Versteck jener, die nichts zu sagen haben, und darum die Ausflucht jener, die alles sagen müssen".

Was hätte er wohl zu der Flut von Tagebüchern gesagt, die auch diesmal wieder die Buchhandlungen überschwemmt? Die Nabelschau hat in Frankreich eine lange Tradition. Rousseau betrieb sie, Stendhal, Gide und viele andere. Sainte-Beuve, der Literaturpapst des 19. Jahrhunderts, nannte Tagebücher "das Arsenal der Rache". Sein Zeitgenosse Baudelaire, auch er ein fleißiger Diarist, stellte befriedigt fest, er habe seine "Hysterie mit Entzücken und Entsetzen gepflegt". Als Motto über dieser unendlichen Produktion könnte Paul Léautauds Eintrag vom 6. Mai 1903 stehen: "Ich werde mir immer mehr darüber klar, dass mich nur ein einziges Thema wirklich interessiert - ich." Als Léautauds Tagebücher schließlich publiziert wurden, waren es 19 schwergewichtige Bände.

Unter den heutigen Schreibern kommt ihm Renaud Camus wohl am nächsten. Jahr für Jahr bringt er - mit einem gewissen zeitlichen Abstand - seine Erlebnisse und Beobachtungen unter die Leute. Im vergangenen Jahr sorgte das Journal von 1994 ("La Campagne de France") für einen handfesten Skandal. Camus hatte darüber geklagt, dass "Panorama", ein Programm des Rundfunksenders France Culture, fast ausschließlich von Juden bestritten werde. Nach lautstarken Protesten, denen sich auch Kulturministerin Tasca anschloss, zog der Verlag Fayard das Buch zurück.

Seit Juli ist es wieder greifbar. Die anstößigen Passagen sind durch Leerstellen ersetzt, hinzu gekommen ist ein Vorwort des Verlegers, das die angebliche Gesinnungsdiktatur der bien-pensants attackiert. Übrigens lässt sich Camus in seinem Journal ausführlich über seine Intimbehaarung und die Beschaffenheit seiner Geschlechtsorgane aus: Ob er damit ein Kandidat für den seit 1996 existierenden Literaturpreis für "Intime Aufzeichnungen" ist? Der Preis ist nur nur einer von insgesamt 2300. Ein anderer, der "Prix de la poésie de la gendarmerie française", kann nur von dichtenden Polizisten gewonnen werden.

Jörg von Uthmann

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