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Klassiker von Tarjei Vesaas: Fremde Haut, eigene Hülle

Parabel aufs Erwachsenwerden: Der Norweger Tarjei Vesaas und sein moderner Romanklassiker „Das Eis-Schloss“.

Ein seltsames Mädchen. Unnahbar. Fremd. Wie aus einer anderen Welt taucht es in dem norwegischen Provinzdorf auf. Auf dem Schulhof hält es sich von den anderen Kindern fern. Es lebt bei der Tante, schnell spricht sich herum, dass die Mutter gestorben sei. Das Mädchen schweigt, aber es strahlt Würde aus, eine unaussprechliche Macht. Unn heißt diese Elfjährige. Sie ist damit so alt wie Siss, die immer im Mittelpunkt steht. Siss aber entdeckt etwas Besonderes in Unn, sie fühlt sich von ihr magisch angezogen.

Tarjei Vesaas (1897–1970) ist einer der bekanntesten norwegischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Er schrieb auf Nynorsk, einer der beiden Standardvarianten des Norwegischen. Vesaas, Sohn eines Bauern, der den größten Teil seines Lebens auf dem Land verbrachte, führte eine ganz eigene, symbolistische, von der Provinz geprägte Sprache in die norwegische Literatur ein. In seinem faszinierenden Roman „Das Eis-Schloss“, der 1966 erstmals in deutscher Übersetzung im Rostocker Hinstorff Verlag erschien und nun vom Guggolz Verlag wieder ausgegraben wurde, lässt er Siss und Unn aufeinandertreffen.

Die Provinz prägte seine Sprache

Ihnen kommt das wie ein kleines Wunder vor, und weil es wunderlich erscheint, ist diese Begegnung auch unbeholfen, schüchtern und leise: „Dass sie so gern beieinander sein wollten, machte sie verlegen. Ihre Blicke begegneten sich voll Einverständnis, mit einer Art Sehnsucht, und doch waren sie zutiefst befangen. Unn sprang vom Bett und zog die Tür zu. Dann drehte sie den Schlüssel herum.“ Eine merkwürdige Spannung liegt in der Luft, als würden beide, indem sie einander erkunden, etwas Verbotenes entdecken – als Kinder, die schon aus ihrer kindlichen Hülle zu schlüpfen beginnen. Sie ziehen sich nackt voreinander aus, ohne zu wissen, warum, und die Scham ist so groß wie ihre Verblüffung. Sie reden kaum, und doch so viel, dass sie verstehen, dass da etwas um sie ist. Unn spricht von einem Geheimnis, das sie zu plagen scheint und das sie nicht benennen kann. Es ist, als würde dadurch ein weiterer Raum aufgestoßen, in den sie nur zu zweit eintreten können. So trennen sie sich an diesem Abend, verwirrt und euphorisch zugleich.

Vesaas’ Ton ist modern. 1963 hat er diesen Roman geschrieben. Es ist fast, als würde man durch ihn in eine andere Welt gelangen, aber auch in eine zurückliegende Zeit, die etwas fortdauernd Verzaubertes, Heimeliges, ja Utopisches hat, in der aber immer auch die Gefahr zu spüren ist, dass alles zerbrechen könnte.

Gang in eine zurückliegende Zeit

Unn traut sich am nächsten Tag nicht in die Schule. Sie schämt sich vor Siss und gleichzeitig weiß sie um deren Freundschaft. Die erneute Begegnung will sie hinauszögern. Also macht sie sich auf zu einem Wasserfall, der in diesem späten, frostig kalten Herbst einen Berg aus Eis um sich gebildet hat, mit fantastischen Formen – ein Eis-Schloss: „Unn blickte in eine Zauberwelt aus kleinen Zinnen, Dachwölbungen, bereiften Kuppeln, weichen Bögen und verworrenem Spitzengeklöppel. Alles war Eis, und das Wasser spritzte dazwischen hervor und baute weiter.“ Sie tritt ein in die majestätisch geformten Räume, dringt immer tiefer ein, ohne sich des Bedrohlichen bewusst zu sein. Irgendwann findet sie, von Müdigkeit erfasst, nicht mehr zurück. Das Eis-Schloss wird zum Grab.

Das Verschwinden von Unn wird bald bemerkt, zuallererst von Siss. Suchtrupps machen sich auf den Weg, aber weil an diesem Abend der Schneefall einsetzt, sind alle Spuren verwischt. Auch Siss wird vom Schnee eingehüllt, wie in Watte bewegt sie sich, still und einsam. Sie fühlt sich schuldig, um die einzig wahre Seelenverwandte gebracht. Die Erinnerung an ihre Freundin wird zur quälenden Begleiterin. Sie gibt sich das Versprechen, immerzu an Unn zu denken, bis sie eines Tages wieder auftaucht. Sie ist die Bewahrerin des Geheimnisses, das Unn nicht preisgegeben hat. Siss schlüpft in die Haut der anderen.

Der Schnee löscht alle Spuren

Tarjei Vesaas’ „Eis-Schloss“ ist eine grandiose Parabel aufs Erwachsenwerden, verfasst in einer bilderreichen, lyrischen, symbolisch aufgeladenen und zugleich zeitlos anmutenden Sprache, die den Übergang von kindlicher Unschuld zu einer Realität, die es nicht gut mit einem meint, in bewegender Einfachheit und Traurigkeit schildert.

Es ist zugleich ein anrührendes, brillant von Hinrich Schmidt-Henkel ins Deutsche gebrachtes Buch, das keinen falschen Ton anschlägt, niemals auch nur in die Nähe trivialer Gefühlsseligkeit rückt. Selbst die liebende Anteilnahme, die dem gramgebeugten Mädchen von den anderen Dorfbewohnern entgegengebracht wird, erzählt Vesaas mit selbstverständlicher, beiläufiger Menschlichkeit. Siss findet sich selbst irgendwann wieder, ohne dabei ihre Freundschaft zu Unn verraten oder ihr Geheimnis der Verbindung zu Unn enthüllen zu müssen. Noch ist sie ein Kind. Aber durch ihr Erlebnis wird sie sich später als Erwachsene immer treu bleiben können. Das „Eis-Schloss“ ist eine wunderbare Wiederentdeckung, nicht nur zum Norwegen-Schwerpunkt der Buchmesse (Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Nachwort von Doris Lessing. Guggolz Verlag, Berlin 2019, 199 S., 22,70 €).

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