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Porträtbild des Berliner Schriftstellers Friedrich Christian Delius.

© Kitty Kleist-Heinrich

"Die Liebesgeschichtenerzählerin" von F.C. Delius: Am Strand von Scheveningen

Friedrich Christian Delius setzt die Reihe seiner Familienstoffe in Romanform mit "Die Liebesgeschichtenerzählerin" fort.

Im Zentrum steht der Entschluss einer fast 50-jährigen Frau, endlich der eigenen Stimme zu folgen und den Lebenstraum vom Schreiben zu verwirklichen. Sie fasst ihn im Januar 1969, in einem epiphanischen Moment am Strand von Scheveningen. Drei Tage lang, bis zu ihrer Rückkehr zu ihrer Familie in Frankfurt, sieht sich Marie als die „Liebesgeschichtenerzählerin“, die sie immer hatte werden wollen – und die dem neuen Roman von Friedrich Christian Delius auch seinen Titel gegeben hat.

Eine Talentprobe hat Marie immerhin schon abgelegt: eine Biografie über die als Widerständlerin von den Nazis hingerichtete Pädagogin Elisabeth von Thadden. Zeile für Zeile hat sie ihr „Gesellenstück“ ihren Pflichten als Ehefrau und Mutter von vier Kindern abgerungen, nun sollen Romane folgen. Auf einer Zugfahrt entlang des Rheins wechseln sich die Euphorie des Neuanfangs, Selbstzweifel und Selbstbestätigung, „Erinnerungsflüge und Fantasien“ ab. Nicht nur die familiären Rahmenbedingungen scheinen günstig. Marie hat auch einen Stoff, der sie ruft, eine Geschichte, die von ihr erzählt werden will.

Eine Geschichte? Tatsächlich sind es, wie ihr nun bewusst wird, sogar drei, genug für eine ganze Romantrilogie. Drei große Liebesgeschichten, alle wahr, alle „hingen auf vertrackte Weise zusammen, alles wurzelte in Niederlagen und Katastrophen.“ Doch welche davon soll sie zuerst erzählen? Die erste, älteste, hat sie nach Holland geführt, zu Recherchezwecken ins königliche Archiv in Den Haag: die Liaison des Prinzen von Oranien und späteren Königs der Niederlande mit einer Berliner Tänzerin. Ihre 1812 geborene illegitime Tochter Wilhelmine war Maries Ururgroßmutter.

Jahrelang wartet Marie auf die Rückkehr ihres Mannes aus der Kriegsgefangenschaft

Dann gibt es noch die Geschichte von Maries eigener Liebe zu dem Gutsbesitzersohn Reinhard, die in den Jahren des Zweiten Weltkriegs begann – eine Geschichte von Entsagung, Flucht aus der mecklenburgischen Heimat und jahrelangem Warten auf die Rückkehr ihres Mannes aus russischer Kriegsgefangenschaft. Und die ihrer Eltern, die Liebe zwischen dem U-Boot-Kapitän Hans und der Generalmajorstochter Hildegard, die mitten im Ersten Weltkrieg begann.

Wie sich zeigt, sind es aber weniger die klassentypischen „Rituale der Annäherung“ zwischen ihren Eltern, die Marie beschäftigen, als vielmehr ihr Vater selbst, der „allgegenwärtige Alte“: War er wirklich der „Gefühlsverweigerer“, als den sie ihn als Kind erlebte, der jedes Weinen mit einem „Schluck’s runter“ erstickte? Wie ging er mit dem Anblick der von ihm versenkten Schiffe, darunter mindestens zwei Truppentransportern, um? Wieso war ihm noch im November 1918 die Ehre des Kaisers so wichtig, dass er wegen einer Flagge sein Leben riskierte? Warum war er nach dem Krieg vorübergehend gelähmt? Wie gelang ihm so leicht der Wechsel „vom Kaisergehorsam zum Gottesgehorsam“? Als „trotziger Christenmensch“ ließ sich der Nationalist und Hindenburg-Anhänger in der NS-Zeit sogar von der Gestapo nicht einschüchtern.

Vieles an diesen Familiengeschichten dürfte Delius-Lesern bekannt vorkommen. Über den holländischen Prinzen und die Tänzerin hat der Büchnerpreisträger selbst geschrieben: In dem Roman „Der Königsmacher“ (2001) schob er die Abstammung seiner Familie von Willem I. noch ironisch gebrochen einer nach Aufmerksamkeit gierenden Schriftstellerkarikatur namens Roche zu. Und über die Herkunft seiner Mutter aus dem mecklenburgischen Landadel, als Tochter eines Volksmissionars, war bereits 2006 in Delius’ „Bildnis der Mutter als junge Frau“ zu lesen: ein berührendes Zeitbild, das die Mutter mit 21 Jahren und schwanger in Rom zeigt, hin und hergerissen zwischen Führer- und Gottesglauben.

Beeindruckend, wie Delius den Lesefluss immer wieder anhält

Weil auch Marie über ihre BDM-Vergangenheit nachdenkt, ihre Konflikte zwischen „Kreuz und Hakenkreuz“, liegt es nahe, in ihr ein weiteres Porträt von Delius’ Mutter zu vermuten, diesmal eben als reife Frau in der Nachkriegszeit auf dem Weg zur späten Selbstverwirklichung. Auch formal-ästhetische Ähnlichkeiten sprechen dafür: Besteht „Bildnis der Mutter als junge Frau“ aus einem einzigen, allein durch Kommata und Leerzeilen gegliederten Satz, so „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ allein aus absatzlangen Sätzen, die jeder für sich, statt mit einem Punkt zu enden, von einem Gedankenstrich gleichsam ins Freie entlassen werden – bevor nach einer Leerzeile der nächste Absatz-Satz beginnt. Es ist beeindruckend, wie es Delius so gelingt, den Lesefluss immer wieder anzuhalten und die Räume für Fantasie und Empathie beständig neu zu öffnen.

Dennoch ist nicht Delius’ Mutter das Vorbild für Marie. Wem hier ein berührendes Denkmal gesetzt wird, ist offenkundig deren zwei Jahre ältere Schwester Irmgard von der Lühe (1919-1998), die wie Marie 1942 in Rostock ein geisteswissenschaftliches Studium wegen Heirat abbrechen musste, um dann 1966 eine Elisabeth-von-Thadden-Biografie vorzulegen. Später folgten noch Gedichtbände und weitere Publikationen zum Thema Widerstand in der NS-Zeit – allerdings keine Romane. Wie ungewiss es ist, ob Marie ihren Traum verwirklichen wird können, darauf deutet auch das offene Ende von Delius’ Roman hin.

Man kann nur staunen, wie es dem gern als „Chronisten der Bundesrepublik“ gerühmten Autor erneut gelingt, Zeitkolorit und Familiengeschichte zu einer eindrucksvollen erzählerischen Synthese zu bringen. Mit einer versteckten autobiografisch-ironischen Pointe: Denn es ist nicht zuletzt der Anblick der in Amsterdam ungeniert zungenküssenden „Krawallstudenten“, der Marie darin bestärkt, ihre Romantrilogie zu schreiben: Auf dass die „freundlichen Nichtstuer“ und „Gammler“ sehen, wie gut sie es in Friedenszeiten haben und sie ihre Talente nicht vergeuden. Was wohl der junge F. C. Delius, der, siehe „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ (1997), seine lustfeindliche Erziehung im Berlin der Studentenrevolte ablegte, dazu gesagt hätte?

Friedrich Christian Delius: Die Liebesgeschichtenerzählerin. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 208 Seiten, 18,95 €.

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