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Jeder muss schauen, wo er bleibt: auf der Kastanienallee in Prenzlauer Berg. 

© Kitty Kleist-Heinrich

Serie Berliner Doppelstraßen (5): Frühstück bis nachmittags um vier

Hipster in Prenzlauer Berg, Großbürgertum in Westend – unterschiedlicher könnten diese beiden Kastanienalleen nicht sein. Aber verwechseln kann man sie doch.

Als Groß-Berlin vor 100 Jahren geschaffen wurde, wuchs das Stadtgebiet von 66 auf 878 Quadratkilometer. Neben Lichtenberg, Schöneberg, Wilmersdorf, Charlottenburg, Neukölln und Spandau gehörten nun auch 59 Umlandgemeinden und 27 Gutsbezirke zur neuen Metropole. Kein Wunder also, dass es im Stadtplan viele Straßennamen doppelt oder sogar mehrfach gibt.

Sieben Mal gibt es die Kastanienallee in Berlin. Das älteste und vielleicht berühmteste Exemplar beginnt an der Eberswalder Straße in Prenzlauer Berg und endet am Weinbergsweg. Dort liegt sie dann bereits in Mitte. 

Shoppen, essen, Haare schneiden, Cocktails trinken, all das kann man hervorragend auf dieser Flaniermeile, die eigentlich keine ist. Die Kastanienallee zählte mal zu den am meisten durch Fahrräder befahrenen Straßen Berlins. 

Außerdem verfügt sie über regen Straßenbahnverkehr, parkende Autos links und rechts sowie Fußgänger und rollerfahrende Touristen, die zwischen den breiten Gehsteigen hin- und herkreuzen. Man muss schon ein bisschen aufpassen beim Flanieren.

Der Grundbesitzer Wilhelm Griebenow ließ 1826 eine Straße zwischen dem „Verlorenen Weg“, der heutigen Schwedter Straße, und der Schönhauser Allee als Verlängerung des Weinbergsweges anlegen. Das Gebiet des heutigen Prenzlauer Bergs lag damals noch vor den Toren Berlins und war mit Windmühlen und einer Vielzahl von Brauereien bestückt. 

Jahrelang war die Kastanienallee nur ein Feldweg. Erst 1865 wurden die ersten Häuser gebaut: sechsgeschossig, mit üppigen Wohnungen unten und niedrigeren oben. Bald war hier mächtig viel los. Die Kastanienallee, sie neigt zu Superlativen.

Schauspieler, Schaulaufen, Bier 

Zum Beispiel entstanden hier die ersten deutschen Filmaufnahmen. Am nördlichen Ende, an der Ecke zur Eberswalder Straße hatten die Schausteller-Brüder Max und Emil Skladanowsky ihr Atelier. 1892 filmte Max seinen Bruder Emil mit einer „Kurbelkiste“, einer selbst gebauten Filmkamera, bei gymnastischen Übungen. 

Der Prater ist im Moment eine Baustelle. Biertrinken kann man trotzdem.

© imago images / POP-EYE

Vom Dach des Hauses nahmen sie Straßenszenen auf. 1895 gelang es ihnen, ihre bewegten Bilder erstmals vor Publikum aufzuführen – ein paar Wochen früher als die französischen Gebrüder Lumière, denen sie allerdings technisch unterlegen waren.

Ein weiterer Superlativ liegt nur ein paar Schritte entfernt: der älteste Biergarten der Stadt. An einem ehemaligen Fuhrwerkshalt mit Bierausschank wurde 1852 der Bier- und Kaffeegarten „Prater“ eröffnet. 

Die Familie Kalbo verwandelte das Areal in eine Vergnügungsstätte ersten Ranges. Der Prater war Kneipe, Ausflugslokal, Volkstheater, Varieté, Ballsaal und Treffpunkt der Arbeiterbewegung. 

Am Wochenende versammelten sich Tausende abenteuerlustige Berliner im Pratergarten. Das Bier war billiger als in der Stadt und schon damals galt: sehen und gesehen werden. Es ist nur konsequent, dass das bis heute so ist. 

„Castingallee, Castingallee. Wir alle, wir alle sitzen auf der Castingallee“, heißt es in einem Lied des Berliner Kabarettisten Rainald Grebe. „Ich sitze hier mit meinem Käsefrühstück. Ich frühstücke bis um vier.“

Die Hauptmanns sind seit 100 Jahren im Kiez 

Um vier Uhr macht übrigens auch der Pratergarten auf. Im Moment müssen die Gäste an einer Baustellenabsperrung vorbei. Das ehemalige Theatergebäude wird saniert. Ab 2021 soll im Prater-Theater wieder die Volksbühne aufspielen. Der Biergarten ist aber auch in diesem Corona-Sommer täglich geöffnet. Im Garten stehen die Bänke jetzt weit auseinander.

Wer wissen will, wie es in der Kastanienallee früher war, muss nicht ins Bezirksmuseum, sondern in den Kastanienhof. In dem Hotel in der Kastanienallee 65 und 66 hat Inhaber Uwe Hauptmann ein kleines Kiezmuseum eingerichtet. Hauptmann sammelt seit Jahren alles, was er über die Straße und die Nachbarschaft finden kann. 

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Sein Urgroßvater, Boleslaus Schulz, betrieb eine Fleischerei am unteren Ende der Kastanienallee. In den 20er Jahren erwarb er zwei Mietshäuser, um fürs Alter vorzusorgen. Seitdem sind die Gebäude in Familienbesitz. 

Ein Bild auf der Vitrine im Gastraum des Hotels zeigt den Urgroßvater vor einem Transporter. „Wir vermuten, dass er es ist“, sagt Uwe Hauptmann. Langjährige Angestellte haben jedenfalls typische Hauptmann’sche Gesichtszüge erkannt.

Früher war in jedem Haus eine Restaurant, ein Geschäft, ein Varieté

Der Kastanienhof ist ein echter Familienbetrieb. Sohn Maximilian ist kürzlich ins Geschäft eingestiegen. Senior Otto arbeitet ebenfalls noch mit. Coronabedingt ist er eine Weile aufs Land gezogen, erzählt sein Enkel. Wegen der Pandemieeinschränkungen schmeißen die zwei mittleren Hauptmanns den Laden im Moment fast allein. 

Sie machen die Nachtschichten, servieren das Frühstück. Es ist wie zu den Anfangszeiten. 1992 starteten die Hauptmanns mit einer Sechs-Zimmer- Pension. Zwei Jahre brauchten sie nach der Wende, um die Häuser herzurichten. Heute bewirtschaften sie 44 Zimmer.

Anfang des 20. Jahrhunderts gab es auf der Kastanienallee kaum ein Haus, in dem nicht ein Geschäft, eine Salatbar oder eine Varieté untergebracht war. Die Fundstücke in Hauptmanns Vitrine zeugen davon. 

Da steht ein Bierkrug aus der nahe gelegenen Königstadt Brauerei, eine alte Kaffeetasse aus dem Prater, Medizinfläschchen aus der Apotheke zum Eisernen Kreuz, Hutschachteln vom Hutmacher Fritz Wagner, zwei Blechdosen, in denen die „Zuckerwaren, Confitüren und Marzipanfabrik Cyliax“ ihre Köstlichkeiten verpackte.

Boheme vom Prenzlauer Berg

Zu DDR-Zeiten siedelten sich in und um die Kastanienallee vor allem auch Literaten und Künstler an, die Boheme vom Prenzlauer Berg. Auch die Poetin Elke Erb, die kürzlich mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, lebte im Kiez. 

In ihrem Gedichtband „Kastanienallee“ schreibt sie: „Im Treppenhaus Kastanienallee 30 nachmittags um halb fünf roch es flüchtig nach toten, selbstvergessenen Mäusen.“ Das Haus mit der Nummer 30 sieht heute ziemlich edel aus, in der Dachetage sind die Fenster bodentief.

Schräg gegenüber liegt zwischen Klamottenläden und dem Kollektivbetrieb „Café Morgenrot“ der linke Buchladen „Zur schwankenden Weltkugel“. Im Schaufenster hängt prominent ein Plakat, das Verhaltenstipps gibt, sollte man Zeuge einer Polizeikontrolle werden: „Eine Kulisse der Beobachtung schaffen“, heißt es dort. 

Im Laden sitzt Buchhändlerin Heike Vasel und erzählt, dass sie als kleine Buchhandlung relativ gut durch die Corona-Zeit kam. Der Laden ist auf Literatur von kleinen und unabhängigen Verlagen spezialisiert, die Themen reichen von Anarchismus bis queere Theorie. Nach Elke Erbs Buch „Kastanienallee“ habe lange niemand gefragt, sagt Vasel. Ein Blick in den Computer zeigt: Es ist sowieso vergriffen.

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Das Gebäude mit der Nummer 85, in dem der Buchladen untergebracht ist, war ehemals ein besetztes Haus. Davon gab es in den frühen 90er Jahren einige in der Kastanienallee. 

Während im prominenten, mit revolutionären Parolen bestückten Nachbarhaus bis heute ständig der Rausschmiss droht, ist die Geschichte hier gut ausgegangen. Die Bewohner aus der 85 einigten sich mit den Hauseigentümern, haben das Gebäude in Eigenleistung renoviert und betreiben es mit Unterstützung des „Miethäusersyndikats“ als spekulationsfreie GmbH.

Keine Hausbesetzer in Westend

Die Kastanienallee im Westend hat augenfällig keine Hausbesetzergeschichten vorzuweisen, Verwechslungsgefahr gibt es trotzdem. Das Hotel „Villa Kastania“ liegt zwischen Heer- und Reichsstraße, dort, wo sich die Kastanienallee zu einem kleinen Platz ausstülpt. 

Beschauliches Westend: einst als „Villenkolonie“ geplant hat man hier immer noch seine Ruhe.

© Kitty Kleist-Heinrich

So mancher Hotelgast, der nach Mitte wollte, ist schon in Charlottenburg gelandet und umgekehrt. In der „Villa Kastania“, die es schon vor Mauerfall gab, war man anfangs nicht so glücklich über den Namensvetter in Mitte. Aber das hat sich gelegt.

Die Kastanienallee in Westend ist genauso üppig wie ihre 950 Meter lange Namensschwester im Osten. Sie reicht vom Spandauer Damm bis zur Heerstraße, ist von Kastanien gesäumt und wird von Straßen mit anderen Baumnamen gequert. 

Auch hier gibt es einen Unternehmer, mit dem alles begann: Heinrich Quistorp übernahm 1868 die bis dato finanziell wenig erfolgreiche „Villenkolonie Westend“. James Hobrecht hatte in seinem Plan für die Stadterweiterung Berlins grüne Plätze angeordnet. In der neuen Villenkolonie wurde das mustergültig umgesetzt.

Der Branitzer Platz ist ein kleine Oase im ohnehin erholsamen Wohngebiet: kreisrund, von einem Ring aus Kiesweg und Bäumen umgeben, mit Bänken bestückt. Über den ansonsten intakten Rasen des Platzes führt ein Trampelpfad, der die beiden Hälften der Kastanienallee auf kürzestem Wege miteinander verbindet. 

In der Nachbarschaft wohnten der Verleger Bruno Cassirer oder der Architekt Erich Mendelsohn. Einige der prächtigen Villen sind noch gut erhalten. Sehenswert sei die Nummer 4 am Branitzer Platz, auch wegen des Gartens, verrät ein Schild. Man muss ganz schön dreist am Zaun hochsteigen, wenn man einen Blick darauf werfen will.

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