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Kultur: Geburtstagsständchen mit Durchschnittsgrau: Ein fotografisches Porträt von Gerrit Engels

Zwanzig Jahre alt ist der Bezirk Marzahn dieses Jahr geworden. Im Januar 1979 wurde der "9.

Zwanzig Jahre alt ist der Bezirk Marzahn dieses Jahr geworden. Im Januar 1979 wurde der "9. Stadtbezirk" der DDR-Hauptstadt gebildet, der sechs Jahre zuvor mit dem Beschluss der SED zum Bau von 35 000 Wohnungen im Nordosten Berlins ins Visier genommen worden war. Es wurden viel mehr. In dreizehn Jahren, zwischen 1977 und dem Untergang der DDR, wuchsen 59 646 Wohnungen aus dem märkischen Sand, entstanden nicht weniger als 4,2 Millionen Quadratmeter Bruttogeschossfläche, knapp das Siebenfache des Volumens am Potsdamer Platz. Annähernd 150 000 Menschen wohnen derzeit in Marzahn. Und nicht wenige von ihnen sagen zu Marzahn nur knapp und stolz "meine Heimat".

So jedenfalls tut es Karin Matthees. Deren einfühlsame Skizze über das Leben in Marzahn damals und heute bildet den Auftakt eines Buches über den Bezirk, gefolgt von einem zahlengesättigten Beitrag vom seinerzeitigen Chefplaner Günter Peters (von dem auch der leise triumphierende Vergleich mit dem Potsdamer Platz stammt). Der renommierte Ost-Berliner (bei ihm darf man das sagen) Bauhistoriker Wolfgang Kil schließt die Trias der Aufsätze mit einer Einordnung der städtebaulichen Bedeutung Marzahns ab. Doch all das ist nur der Auftakt zu einem Bilderbuch im besten Sinne. Gerrit Engel, ein Münchner Architekturfotograf, der sich unter anderem mit einer Serie über die verfallenden Industriebauten im nordamerikanischen Buffalo einen Namen gemacht hat, hat den Bezirk über die wechselnden Jahreszeiten hinweg besucht und porträtiert. Das lässt an das "Hellersdorf-Projekt" denken; und die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Bezirken liegen ja auf der Hand. Doch anders als beim Hellersdorf-Projekt mit seinen vier Fotografen, die aus unterschiedlichsten Blickwinkeln schauten, war Gerrit Engel alleine unterwegs. Sein Buch zeigt darum einen einheitlichen Duktus; aber keine Eintönigkeit. Engel ist nicht auf eine fotografische Sprache festgelegt. Er arbeitet durchweg in Farbe. Zu sagen, dass seine Aufnahmen gleichwohl niemals bunt sind, könnte das alte Vorurteil von der "grauen Einöde" der Plattenbausiedlung bestätigen. Aber das ist es nicht. Engel hat seine Bilder sehr sorgfältig auf eine zurückhaltende Farbskala abgestimmt. Eine in die Farbfotografie übersetzte Bechersche Gleichförmigkeit zieht sich durch die Bilder. So, wie die berühmten Bechers grundsätzlich bei bedecktem Himmel und daher gleichmäßigem Licht arbeiten, sind auch Engels Aufnahmen überwiegend unter Berliner Durchschnittsgrau entstanden. Nichts ist spektakulär; aber ebenso wenig wird denunziert. Und so entsteht im Wechsel von Architekturaufnahmen und Porträts, von Totalen und Ausschnitten ganz allmählich ein Bild von einem Wohngebiet, das im Westen immer als Synonym für das abgrundtiefe Grauen realsozialistischer Plattenbauweise herhalten musste. Gewiss, Engels Porträt ist eins von heute - nachdem die zweieinhalb Milliarden Mark teuren Maßnahmen zur Ergänzung der Infrastruktur, zur Umnutzung und zur Wohnumfeldverbesserung bereits stattgefunden hatten. Also keine Spur mehr vom Pathos der Aufbauzeit (mit dem allzu oft die fehlenden Fußwege hinweggeredet wurden, von den mangelnden Einkaufs- und Ausgehmöglichkeiten ganz zu schweigen). Aber dafür hat Engel, wenn man so will, das leise Pathos des Dort-Geblieben-Seins, des Wurzel-Gefasst-Habens eingefangen, wie es aus den Gesichtern seiner Protagonisten spricht.

Marzahn ist ein Bezirk, den im Westen kaum jemand kennt; und außer für Stadtplaner und DDR-Historiker gibt es sicher nicht viele Gründe, eigens dorthin zu fahren. Dieses Schicksal teilt Marzahn mit allen Großsiedlungen auf der grünen Wiese. Aber es ist ein Bezirk, der die Schmähungen - wie Gerrit Engels bemerkenswertes Buch zeigt - nicht verdient hat, sondern sich aus schwieriger und materiell stets eingeengter Herkunft zu einem ganz unspektakulären Wohnquartier entwickelt hat. Heimat, auch das, für 150 000 Berliner.Gerrit Engel: Marzahn. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 1999. 132 S., 78 DM.

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