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Verbrecher JAGD: Gerechtigkeit und Paranoia

Klar habe ich sofort an Edward Snowden gedacht. Die Parallelen liegen auf der Hand.

Klar habe ich sofort an Edward Snowden gedacht. Die Parallelen liegen auf der Hand. Robert Harris erzählt in seinem neuen Thriller „Intrige“ (Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Heyne, München 2013. 621 S., geb., 22,99 €) die Geschichte der Dreyfus-Affäre – nah an den historischen Fakten und gleichzeitig bestechend aktuell. Der Hintergrund: 1894 glaubt der französische Geheimdienst einen deutschen Spion entdeckt zu haben. Der jüdische Offizier Alfred Dreyfus wird angeklagt, degradiert und verbannt. Kurz darauf stellt ein gewisser Oberstleutnant Picquart vom Geheimdienst fest, dass die Beweise gefälscht sind, und informiert Parlament und Öffentlichkeit. Der Oberstleutnant wird zum Whistleblower: „Ich möchte, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.“ Marie-Georges Picquart, der Edward Snowden des 19. Jahrhunderts?

Tun wir der Gerechtigkeit Genüge. Natürlich liest man „Intrige“ vor dem Hintergrund der NSA-Affäre mit anderen Augen. Der große Verdienst von Robert Harris besteht aber zunächst darin, die scheußlich komplizierte Causa „Der französische Staat gegen Alfred Dreyfus“ in einen knallspannenden Thriller zu verpacken und sich dabei nicht vor einfachen Bildern zu fürchten. Zum Beispiel: Picquart teilt Kriegsminister Billot mit, dass das Geheimdienstdossier über Dreyfus eine Fälschung ist – und der Minister hält sich wie ein kleines Kind die Ohren zu. Ganz toll! Und Harris hat auch keine Angst vor losen Fäden. Die Frage, ob Picquart tatsächlich der strahlende Held der „Gerechtigkeit“ ist, bleibt offen. Sicher, Picquart ist eine positive Identifikationsfigur. Wenn man ihm bei der Lektüre allerdings lange genug über die Schulter schaut, fühlt man sich doch unbehaglich: Picquart kann den ehrgeizigen Aufsteiger Dreyfus nämlich nicht leiden – und seine Abneigung trägt mehr oder weniger deutliche antisemitische Züge.

Picquarts Ressentiment ist ein gutes Beispiel für die These des französischen Soziologen Luc Boltanski, dass sich der Nationalstaat an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mit der Krankheit Paranoia infiziert: Ein ach-so-gerechter Geheimdienstoffizier deckt ein antijüdisches Komplott auf – und leidet gleichzeitig (wie Harris sehr schön vorführt) unter antisemitischem Verfolgungswahn. Mit Dreyfus selbst will Picquart möglichst nicht in engen Kontakt kommen. Boltanski – ein ziemlich origineller Querkopf! – beschäftigt sich mit diesem Komplex in „Rätsel und Komplotte“ (Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp, Berlin 2013, 485 S., geb., 39 €).

Dieses Buch ist natürlich kein Thriller, sondern eine stellenweise brutal abstrakte soziologische Studie, die wegen ihres Untertitels „Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft“ trotzdem unbedingt hier erwähnt werden muss. Liebe Leserinnen und Leser, so eindrücklich wie bei Boltanski ist die Relevanz unserer Lieblingsgattung vielleicht noch nie formuliert worden!

Ausgangspunkt ist die Frage nach der politischen Verunsicherung, die die europäischen Staaten im Vorfeld des Ersten Weltkriegs ergreift – und der sich Boltanski über den Umweg der Psychiatriegeschichte nähert: „Paranoia“ ist um 1900 herum eine fast modische Diagnose, die hervorragend in eine Zeit passt, in der überall Komplotte zu lauern scheinen. Der Paranoiker glaubt, dass verdeckte Kräfte „hinter der Realität“ arbeiten. In Frankreich zum Beispiel fürchten die „antidreyfusards“ eine jüdische Verschwörung, die „dreyfusards“ prangern dagegen den Antisemitismus der politischen Elite an. Hier zieht Boltanski die Parallele zum Kriminalroman: Auch der Ermittler sieht Zusammenhänge, die andere nicht sehen – und nicht selten nimmt seine Untersuchung auf den ersten Blick wahnhafte Züge an.

Detektive, Cops, Geheimagenten: Die literarischen Helden, die die gestörte gesellschaftliche Ordnung für uns wiederherstellen, sind selbst „gestört“. Darin liegt, wenn man Boltanski weiterdenkt, vielleicht die eigentlich subversive Kraft der Gattung Kriminalroman, die weit über das Buch hinausreicht: Der Fall ist gelöst. Doch die Verunsicherung wächst.

Robert Harris liest aus „Intrige“ am Montag, 11. November, um 19 Uhr im Kulturkaufhaus Dussmann, Friedrichstr. 90.

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