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Der 1977 geborene Wiener Schriftsteller Xaver Bayer.

© Klaus Pichler/Verlag

"Geschichten mit Marianne" von Xaver Bayer: Blumfelds Drohnen

Tagebuch unserer Ängste: Xaver Bayers grandioser, düsterer und zugleich trostreicher Erzählungenband „Geschichten mit Marianne“.

Die Welt ist aus den Fugen. Seit ein paar Monaten. Aber vielleicht schon immer. Und ganz gewiss in dem neuen Geschichten-Zyklus von Xaver Bayer. Einmal will darin der namenlose Ich-Erzähler seine Freundin Marianne besuchen. Er steigt in den Aufzug, stellt erschöpft die Einkaufstüten ab, schließt die Augen und erschrickt, als die Fahrt allzu lange dauert.

„Wenn ich der digitalen Anzeige Glauben schenken darf, befindet sich der Lift im 17. Stock, ein paar Sekunden später im 18., gleich darauf im 19. – und das in einem Haus, das nur elf Stockwerke hat." Immer höher steigt der Aufzug, immer fremder wird dem Erzähler sein Leben und die Frau, die er eben noch als seine Partnerin bezeichnet hatte. Und er fragt sich, „ob ich Marianne überhaupt je begegnet bin oder ob sie nicht einfach nur eine Ausgeburt meiner Phantasie ist."

Jede von Bayers zwanzig „Geschichten mit Marianne“ (Verlag Jung und Jung. Salzburg, Wien 2020.180 S. 21 €.) spielt mit dem Unerwarteten, jede beginnt wieder an einem Nullpunkt, als sei nichts geschehen. Jedes Mal ist da dieses geheimnisvolle Paar: eine aus besseren Kreisen stammende Frau, die in noblen Wohnungen lebt, von Kunstwerken umgeben ist, Freude an spielerischen Inszenierungen hat; und ein Mann, der die ihm gestellten Aufgaben ernst nimmt und sich dabei grotesken Situationen ausliefert.

Bayer interessiert sich für die Kippmomente vom Alltäglichen ins Groteske

Auch wenn die Geschichten tödlich enden, Marianne verschwindet oder die Umstände in ein absurdes Chaos münden – die nächste Geschichte bringt eine neue Versuchsanordnung hervor und das Beziehungsspiel beginnt von vorn. Das Paar nimmt etwa an einem volkstümlichen Perchtenlauf teil, der sich in einen Gewaltexzess steigert, an dem sich beide mit unverhohlener Lust beteiligen; der Besuch eines Floating-Instituts führt zur Schrumpfung des Erzählers auf Staubkorngröße.

Oder er wird von zwei nicht mehr von seiner Seite weichenden Drohnen heimgesucht – wie einstmals Kafkas Blumfeld von zwei auf- und abspringenden Bällen.

Bayer interessiert sich für die Kippmomente vom Alltäglichen ins Groteske und Verstörende, vom Tag- in einen Alptraum „Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob ich etwas geträumt oder wirklich erlebt habe. Ich weiß nicht, worauf das zurückzuführen ist, aber mir kommt vor, dass diese Schwierigkeit, Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden, in den letzten Jahren zugenommen hat.“

Es ist faszinierend, wie nüchtern der 1977 geborene Wiener Autor diese Kehren vom Heimeligen ins Unheimliche erzählend vollzieht. Unmerklich gerät man von einer Sphäre in die andere, lässt sich verlocken und wird verführt vom Schönen, das oft nur des Schrecklichen Anfang ist.

Denn was in diesen Geschichten vor allem abgeschritten wird, ist der schmale Grat zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen unserem Glauben an die Logik des Normalen und dem davon nur ein wenig abweichenden Wahnsinn. Xaver Bayer schreibt das Tagebuch unserer Ängste. Er hat dafür eine Form gefunden und einen Ton, der zeitlos erscheint, meisterlich und suggestiv ist, dazu eine Haltung, die das Erzählte immer auch ironisch reflektiert.

Verzweiflung und Zuversicht sind immer aufeinander bezogen

In der vorletzten Geschichte seufzt Marianne über öde Dystopien, die man aus Furcht so lange heraufbeschwöre, bis sie Wirklichkeit würden. Eine Seuche verbietet darin den Menschen, ihre Häuser zu verlassen. Heizmittel sind unerschwinglich geworden. Marianne und ihr Freund frieren. Sie frieren so sehr, dass sie ihre Möbel verbrennen, ihre Gemälde, am Ende die Bibliothek.

„Das ist das Ende. Bevor allerdings die Flamme im Ofen zu verglimmen droht, stecke ich schnell mein zuletzt erschienenes Buch, Geschichten mit Marianne, hinein, leicht aufgefächert, damit es schneller Feuer fängt, und so verfahre ich mit jedem weiteren." Und schließlich übergibt der Erzähler sein erstes Buch dem Feuer – übrigens das erste von Xaver Bayer selbst.

Den Titel flüstert er der schon nicht mehr recht ansprechbaren, vor Kälte erstarrten Marianne ins Ohr: „Heute könnte ein glücklicher Tag sein“. Verzweiflung und Zuversicht sind immer aufeinander bezogen.

„Geschichten mit Marianne“ ist ein grandioser, düsterer und zugleich trostreicher Band voller skurriler Erzählungen. Xaver Bayer schreibt sich tief hinein in die Realitätsabgründe von Beziehungsökonomien, die Verstörungen seiner Helden, von uns allen. Beglückt taucht man als Leser aus diesen Untiefen wieder auf.

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