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Robert Naylor in "Ghost Town Anthology"

© Lou Scamble

„Ghost Town Anthology“ im Berlinale-Wettbewerb: Paranormale Aktivitäten in der Einöde Kanadas

„Twin Peaks“ lässt grüßen: In Denis Côtés Wettbewerbsfilm „Ghost Town Anthology“ bringt das Verschwinden eines jungen Menschen eine Kleinstadt ins Wanken.

Silvester ist eine triste Angelegenheit im kanadischen Provinzdorf Irénée- les-Neiges, 215 Einwohner. Die wenigen Feierwilligen haben sich im einzigen Restaurant versammelt, der Inhaber muss sich für gute Stimmung so ins Zeug legen, dass er den Neujahrscountdown statt bei zehn schon bei 15 Sekunden beginnt. Aber so richtig ist niemandem nach Anstoßen zumute. Zu nah geht allen der plötzliche Tod des 21-jährigen Simon.

Das Verschwinden eines jungen Menschen, das die Routinen einer Kleinstadt ins Wanken bringt und Verdrängtes heraufbeschwört: David Lynch hat aus dieser Konstellation mit „Twin Peaks“ ein Universum erschaffen – das Denis Côté in seinem Wettbewerbsbeitrag „Ghost Town Anthology“ zur Genüge beschwört. Die Umstände des Todesfalls ruft der Kanadier allerdings nicht als großes Geheimnis aus, sondern präsentiert sie ganz unverstellt gleich eingangs: Ein Auto auf der Landstraße, es schwenkt plötzlich stark nach links, rast ins einzig massive Hindernis am sonst leeren Wegesrand. Mysteriös ist die Sache also trotzdem, zumal kurz nach dem Aufprall zwei kindsgroße Gestalten mit unheimlichen Masken die Unfallstelle besehen.

Offener in der Erzählweise als frühere Filme

Bevor die paranormalen Andeutungen explizit werden, lässt Côté die Sache erst mal in die dörfliche Leere laufen: Der Himmel grau, die Landschaft schneeweiß oder matschbraun, die Menschen in dicke Mäntel verpackt. Das körnige 16mm-Material tut sein Übriges. Die Tristheit ist aber nicht nur atmosphärisches Beiwerk, sondern Kern eines Films, der nicht zuletzt Psychogramm der kanadischen Provinzwelt sein will. Die Bürgermeisterin nutzt die Trauerfeier für Simon zu einem Plädoyer gegen die Landflucht, und als die Kommunalverwaltung angesichts des mysteriösen Unglücks eine Mitarbeiterin vorbeischickt, zeigt sich die Gemeinde gar nicht begeistert über die Bevormundung – zumal die Dame Kopftuch trägt.

„Ghost Town Anthology“ ist, im Vergleich zu Côtés letzten Wettbewerbsbeiträgen „Boris Without Beatrice“ (2016) und „Vic + Flo haben einen Bären gesehen“ (2013), offener in der Erzählweise, basiert nur lose auf dem gleichnamigen Roman von Laurence Olivier. Der Film spielt zunehmend offensiv mit Horrormotiven, lässt Figuren erschrocken ins Kamera-Off blicken und verweigert den Gegenschuss, lässt schließlich Tote wiederauferstehen und die Lebenden heimsuchen. Die Durchlässigkeit für Genremotive verleiht „Ghost Town Anthology“ dann aber eher eine Aura der Beliebigkeit, als die Bestandsaufnahme provinzieller Gegenwart zuzuspitzen. Côté macht sich zunutze, dass sich mit einem Themencocktail aus Strukturwandel, falschem Provinzstolz und fremdenfeindlichen Ressentiments leicht ein Netz spannen lässt, in dem früher oder später schon jede Zuschauerin sicher landen wird.

Schön ist dann aber doch, wie die Ankunft der Toten allmählich ihren Schrecken verliert. Irgendwann lassen sich die eher harmlos in der Gegend herumstehenden Toten nämlich nicht mehr als Halluzinationen trauernder Angehörige oder Hirngespinste der etwas verrückten Adèle abtun, sondern werden offiziell anerkannt. Alles keine Frage des Krisenmanagements, sondern der Anpassungsfähigkeit eines Gemeinwesens an eine neue Realität. In dieser lapidaren Auflösung eines Horrorszenarios bekommt der sonst in zu viele Richtungen stochernde Film doch etwas zu fassen.

12.2., 9.30 Uhr und 18 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 14.2., 18.30 Uhr (Odeon), 17.2., 16 Uhr (Haus d. Berliner Festspiele)

Till Kadritzke

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