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Maximiliano Gioni mit Maske.

© Gianfranco Baruchello

Gianfranco Baruchello in den Deichtorhallen: Selber denken!

Von Rätselwelten und Wimmelbildern: Die Hamburger Deichtorhallen präsentieren Arbeiten von Gianfranco Baruchello.

Gianfranco Baruchellos subversiv verrätseltes „Multipurpose Object“ von 1966 hat die Anmutung einer Handgranate. Der obskure Handschmeichler aus poliertem Metall lockt als Leitmotiv auf den Plakaten und dem Katalog zur ersten großen deutschen Retrospektive des 89-jährigen Künstlers in die Hamburger Deichtorhallen. Dort zeigt die Sammlung Falckenberg 150 Werke des Italieners aus fünf Jahrzehnten. Baruchellos Bilder, Fotografien, Filme und raumgreifende Installationen setzen sich prononciert mit kritischer Kunst und Kunsttheorie auseinander, auf die das Haus spezialisiert ist.

Bereits seit den sechziger Jahren wandte sich der in Livorno geborene und heute in Rom lebende Gianfranco Baruchello gegen den kommerziellen Kunstbetrieb. Unbeirrt fordert er eine sowohl politisch wie gesellschaftlich ausgerichtete Kunst. Seine Arbeiten waren auf zahlreichen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen, fünfmal nahm er an der Biennale in Venedig teil, zweimal an der Documenta in Kassel. Im deutschsprachigen Raum allerdings blieb er weitgehend unbekannt. Das will Harald Falckenberg ändern und betont im Ausstellungskatalog: „Die ganz eigene genuine künstlerische Leistung Baruchellos steht außer Frage. Er leistet politischen Widerstand mit den Mitteln der Kunst und dem Eigensinn des Künstlers.“

Tatsächlich entwickelte Baruchello medienübergreifend mit immer wieder neuen Ideen eine einzigartige künstlerische Erzählweise. Sie lebt von der Spannung zwischen ausgeschnittenen Bildelementen und handgeschriebenen Wortfetzen, vom Kontrast dreidimensionaler Objekte mit überdeckender Malerei. Handschriftliches, Gezeichnetes und figurativ Enzyklopädisches im Mini-Format sind auf großen leeren Flächen zu skurrilen Kosmen vereint, Triviales aus der Alltagswelt in Assemblagen und Schaukästen absichtsvoll zu widersprüchlichsten Inventaren gereiht. Baruchello betont, dass seine labyrinthischen Bilder nie zufällig zustande kamen: „Sie folgen mysteriösen Regeln und Anordnungen, die ich nicht erklären kann.“

Baruchello fasste mit Hilfe von Marcel Duchamp Fuß in New York

Gianfranco Baruchello studierte Jura. Erst nach einem Jahrzehnt als Geschäftsführer in einer väterlichen Chemiefirma wandte er sich Ende der fünfziger Jahre der Kunst zu. Geld dafür hatte er genug. Mit Hilfe von Marcel Duchamp fasste der Autodidakt in New York Fuß. 1962 gelang ihm dort mit Materialbildern aus gefundenen Alltagsgegenständen der künstlerische Durchbruch. Ab 1962 schuf er auf großen weißen Leinwänden minimalistische Bilder mit sporadischen Farbspuren, vagen Formen und einzelnen Linien. Bald malte er lieber auf weiß grundierten, monochromen Aluminiumplatten, die er durch winzige Figuren, Werkzeuge und Maschinenteile, Zeitungsausschnitte und Druckgrafiken ergänzte. Sie wurden zu Vorläufern seiner Assemblagen in Schaukästen mit Tapeten aus Landkarten und Papierfigurinen als Bewohnern.

Der Querdenker versuchte sich auch als Filmemacher. 1965 entstand aus Sequenzen amerikanischer Produktionen der Streifen „Verifica incerta“, den Harun Farocki 2012 bei den Berliner Filmfestspielen als wegweisenden Montagefilm wiederentdeckte. 1975 zog Baruchello für sein Projekt „Agricola Cornelia“ aufs Land, experimentierte in der Nähe von Rom eine Zeit lang mit Ackerbau, Viehzucht und Gartenkunst. Daneben verfasste er zahlreiche Gedichte, Prosatexte und Essays.

Hieroglyphen, Wimmelbilder und neuere Installationen

Die Retrospektive in Falckenbergs pittoreskem Industriebau aus der Gründerzeit in Hamburg-Harburg, der seit 2011 organisatorisch zu den Deichtorhallen gehört, präsentiert Baruchellos Gedankenwelt chronologisch. Der Gang durch die drei ausladenden Stockwerke fordert Zeit und viel intensives Hinschauen. In Erinnerung bleiben neben dem comicartigen Gewirr kleinster Hieroglyphen, Zeichen und Szenerien auf wandfüllenden Wimmelbildern nicht zuletzt zwei raumfüllende neuere Installationen, die beide wohl autobiografische Reminiszenzen des Künstlers sind: „Piccolo Sistema“ zeigt eine Art Labor mit Untersuchungstisch, Modellen und Tinkturen, „Poisonous Plants“ wuchernde Beete giftiger Grünpflanzen. Decodierung der Objekte wird auch hier nicht mitgeliefert. So ist genügend Raum für eigene Fantasien in Baruchellos sorgsam verschlüsselter Rätselwelt.

Sammlung Falckenberg, Hamburg-Harburg, bis 28. September. Katalog 55 Euro.

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