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Amüsiert. Oleg Jurjew, geboren 1959, lebt in Frankfurt am Main.

© Yura Okamoto/promo

Oleg Jurjews „Unbekannte Briefe“: Glück im Postscriptum

Gut untergejubelt: Oleg Jurjew erfindet „Unbekannte Briefe“ russischer Literaten aus dem 18. Jahrhundert. Ein poetischer, verblüffender Roman.

In einer seiner Postillen freut sich Johann Wolfgang von Goethes Romanheld Werther darüber, „dass mein Herz die simple, harmlose Wonne des Menschen fühlen kann, der ein Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das er selbst gezogen“. Eine ähnliche Schöpfungsfreude muss der russische Schriftsteller und langjährige Tagesspiegel-Kolumnist Oleg Alexandrowitsch Jurjew beim Verfassen seines ersten Buchs auf Deutsch empfunden haben – eines stupenden, veritablen Briefromans.

Diese Gattung erlaubt wie keine andere die eindringliche Charakterzeichnung und Seelenschau des fiktiven Briefschreibers. Goethe kommt in Jurjews „Unbekannten Briefen“ (Verbrecher Verlag, 250 Seiten, 22 Euro) gleich mehrfach vor, als „eine Art deutscher Puschkin“ und somit als Referenzgröße für die russischen Briefeschreiber Leonid Iwanowitsch Dobytschin (real existierend) und Iwan G. Pryschow beziehungsweise Prischow (erfunden).

Auch der unglückliche Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz erinnert sich kurz vor seinem rätselhaften Tod in Moskau im Mai 1792 in einem Brief an Nikolai Michailowitsch Karamsin an den Freund Goethe aus Sturm-und-Drang-Tagen, der ihn im Stich ließ: „Ich dachte einstmals, Teutschland sei mein wahres Vaterland, und Rußland das falsche; itzto bin ich bessern belehrt: alles ist vice versa!“ Der umnachtete Lenz verbringt seine letzten Stunden in Gesellschaft eines Nagetiers: „Die Ratte ist zurück, eine schnurrbärtige Birnenhälfte. Oder ist sie keine Ratte, sondern ein winziges chinesisches Hündgen, welche die Gesellschaftsdamen hinter ihren Herrinnen in Körbgen überallhin tragen?“ Chamäleongleich eignet sich Oleg Jurjew in diesem dritten Teil seiner „Unbekannten Briefe“ den Tonfall der Empfindsamkeit im ausgehenden 18. Jahrhundert an, so wie er im ersten Brief des Leningrader Avantgardeschriftstellers Leonid Dobytschin die ebenso schwärmerische wie bürokratische Sowjet-Metaphorik ironisiert.

Spielerische Vermittlung von Historizität

Schon seit seinem ersten, von Elke Erb und Sergej Gladkich ins Deutsche übersetzten Buch „Der Frankfurter Stier. Ein sechseckiger Roman“ (1996) offenbarte Jurjew seine Fähigkeit bei der spielerischen Vermittlung von Historizität, ganz abgesehen von der poetischen Qualität seiner Sprache mit ihrem ungeheuren Reichtum an Bildern, Wendungen und Windungen. Dieses Vermögen bringt er nun – mithilfe einer Lektorin – auch im Deutschen zum Blühen, in einem Text voller russisch-deutscher Pingpong-Partien.

Jurjew wurde 1959 im damaligen Leningrad geboren und lebt seit 1990 mit seiner Frau Olga Martynowa in Frankfurt am Main. Dortselbst sei das Slawistische Seminar aufgelöst worden, was sie gezwungen habe, erhebliche Teile von dessen Bibliothek in ihrer Wohnung aufzunehmen, flunkert er in seiner Eigenschaft als fiktiver Herausgeber. Bei der Sichtung der Bücher will er Fragmente eines Schreibens von Prischow an Dostojewski gefunden haben. Den Brief des von ihm verehrten Leonid Dobytschin an den Kinderbuchautor und Kritiker Kornei Iwanowitsch Tschukowski wiederum habe ihm ein Opel-Ingenieur, der in Russland gearbeitet hatte, bei einer Lesung in Darmstadt übergeben.

Dobytschin wurde bei einer Versammlung des Leningrader Schriftstellerverbands im März 1936 des „Formalismus“ bezichtigt, woraufhin sich seine Spur verlor. Oleg Jurjew lässt ihn nun sein weiteres Leben in einen Endlosbrief aus dem Jahr 1954 mit unzähligen Postscripta packen: „Man hatte mich als Hauswart ans Gymnasium der Stadt Neustadt an der Weinstraße geschickt, und ich vergaß unvermittelt die ganze deutsche Sprache. Konnte gar nichts sagen, kein einziges Wort! So musste ich mich mit dem Gymnasialdirektor und den Lehrern der oberen Klassen auf Latein verständigen.“ Das ist seinem Landsmann Oleg Jurjew, der unweit von Neustadt Stipendiat im Künstlerhaus Edenkoben war, zum großen Glück und Amüsement seiner Leser nicht passiert.

Oleg Jurjew stellt seine „Unbekannten Briefe“ an diesem Donnerstag um 20 Uhr im Gespräch mit Paul Jandl im Literaturhaus Berlin, Fasanenstraße 23, vor.

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