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Nekrolog im November 2011. Studenten tragen in Athen die griechische Flagge zu Grabe. Foto: Alkis Konstantinidis, dpa

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Griechenland: Wenn Politik zurücktritt

Griechenland weiß nicht, wohin es gehört. Dieses Problem werden bald viele europäische Staaten bekommen. Ist die bedingungslose Kapitulation der politischen Eliten Europas vor den Finanzmärkten nicht selbstmörderisch?

Stereotype sind nicht nur deshalb bequem, weil sie komplizierte, facettenreiche Sachverhalte auf eindeutige und unmittelbar zu gewinnende Eindrücke reduzieren, sondern auch weil sie sich leicht umwerten lassen. Die leichtsinnigen, undisziplinierten, unzuverlässigen, faulen und verschwenderischen Südeuropäer von heute waren die beneidenswerten Lebenskünstler von gestern – gelassene, fröhliche Wesen, die ihren Alltag immer genussvoll zu gestalten verstanden und sich selbst nicht durch Maloche und Überorganisation entfremdet waren. Ändert sich aber die Stimmung, ändert sich auch die Einstellung. Die plötzliche Wut des Fürsten trifft als ersten seinen Hofnarren. Denn wirkungsvolle Stereotype werden ja meist von Stärkeren auf Schwächere angewendet.

Damit will ich keineswegs bestreiten, dass viele der Vorwürfe, die der nüchterne Norden dem frivolen Süden der EU heutzutage macht, berechtigt sind. Und vor allem im Fall Griechenlands, mit seinen so vielen und teilweise so markanten Abweichungen von der europäischen Norm, scheint die immer lauter werdende Frage, ob dieses Land kulturell überhaupt zu Europa gehört, nicht mehr so absurd zu sein, wie man früher angenommen hatte. Es gibt sogar überzeugte griechische Europäer, die sich verzweifelt eben diese Frage stellen.

Es ist eine Frage, die man mit genauso guten Argumenten mit einem Nein wie mit einem Ja beantworten könnte.

Der griechische Staat entstand nach einem Unabhängigkeitskampf – nach einer Revolution, wie man ihn bei uns nicht ganz so übertrieben nennt –, der von den Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution inspiriert war und ideologisch wie organisatorisch von Vertretern der sehr breit gefächerten und weltoffenen griechischen Diaspora getragen wurde. Dieser Unabhängigkeitskampf wurde allerdings in einer größtenteils archaischen Gesellschaft ausgefochten, die sehr tiefe und dauerhafte Wurzeln in der Tradition hatte.

Griechenland hat die Renaissance verpasst, obwohl griechische Intellektuelle, die nach dem Fall Konstantinopels in den Westen geflohen waren, nicht unwesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen haben, dank ihrer unmittelbaren Kenntnis der Literatur des Altertums. Griechenland hat auch kein eigentliches Bürgertum, im Sinne der sozialen Geschichte des Westens, hervorgebracht. Bis auf wenige lokale Ausnahmen bestanden die aufstrebenden Klassen hauptsächlich aus Kaufleuten und Schiffseigentümern, die die gesellschaftlichen Strukturen des Landes nicht im gleichen Maße umwälzen konnten, wie der Kapitalismus im Westen es getan hat.

Das Ergebnis war eine immer noch andauernde, für europäische Verhältnisse fast beispiellose Spannung zwischen Modernität und einer vormodernen, manchmal sogar bewusst antimodernen Einstellung. Der griechische Staat hatte fast von Anfang an durchaus fortgeschrittene Institutionen. Griechenland war zum Beispiel Jahrzehnte lang im 19. Jahrhundert der einzige europäische Staat östlich des Rheins, der eine Verfassung hatte, und er war auch der erste, der das allgemeine Wahlrecht einführte, allerdings nur für Männer.

Griechenland hat auch die längste demokratische Tradition im südosteuropäischen Raum. Der Einfluss dieser institutionellen Errungenschaften auf das Bewußtsein der Bevölkerung wird jedoch im sozialen Alltag von vormodernen Sitten und Praktiken gemindert, die für viele Griechen ein wesentlicher Teil der nationalen Identität sind.

Man kann in diesen Sitten unschwer sowohl die Vor- als auch die Nachteile der griechischen Lebensweise erkennen. Bilden die starken Bande innerhalb der Großfamilie ein Sicherheitsnetz für jedes ihrer Mitglieder und sorgen für Geborgenheit, so hindern sie andererseits die Entwicklung der Individualität und sind eine Ursache der Vetternwirtschaft. Die griechische Gelassenheit mag gut für die psychische Gesundheit sein, aber sie fördert nicht gerade die Produktivität. Abergläubische Vorstellungen sind noch weit verbreitet in der Bevölkerung, aber das geht einher mit der Erhaltung vieler schöner, uralter Gebräuche und Feste. Sogar die berühmte griechische Gastfreundschaft ist in gewisser Hinsicht die Kehrseite des tiefen Misstrauens gegen alle Institutionen, die über die Gemeinschaft und die persönlichen Beziehungen hinausgehen. Es gibt überdies Eigenschaften des griechischen „nationalen Charakters“, die von Ausländern, vor allem Nordeuropäern, schlicht missdeutet werden. Viele Besucher des Landes in letzter Zeit wundern sich beispielsweise darüber, dass Restaurants und Tavernen trotz der verheerenden Krise voll sind, und schließen daraus, dass die Griechen in Wahrheit doch reicher sind, als sie vorgeben. Die Schlussfolgerung ist falsch. Der Grieche setzt sich einfach andere Prioritäten als der Deutsche oder der Holländer.

Ein griechisches Sprichwort lautet: „Wenn man arm ist, muss man es sich gutgehen lassen“. Damit ist gemeint, dass Armut nicht zu Depression führen darf und dass der Arme trotz seiner wenigen Mittel nicht auf Vergnügungen zu verzichten braucht. Man könnte es so formulieren: Griechenland ist zu orientalisch, um ein europäisches Land zu sein, und zu westlich, um zum Orient zu gehören. Ein solches Paradoxon sowie ähnliche Besonderheiten anderer Länder der europäischen Peripherie sollte eigentlich als bereichernd für die europäische kulturelle Identität betrachtet werden, wenn die Berufung auf die „Einheit in der Verschiedenheit“ nicht bloß ein Lippenbekenntnis ist.

In entscheidenden Momenten seiner 180-jährigen Geschichte als unabhängiger Staat hatte Griechenland das Glück, kompetente, weitsichtige politische Leader am Steuer zu haben, die das Land mit erheblichem Erfolg und einem bemerkenswerten Konsens der Bevölkerung zu modernisieren und näher an den Westen zu bringen versuchten. Griechenlands Unglück aber ist, dass gerade seit dem Eintritt in die heutige EU vor dreißig Jahren die regierenden Parteien zusehends zu bürokratischen, korrupten Mechanismen mutierten, die nur auf ihr Fortbestehen bedacht waren und zu diesem Zweck Subventionen und Anleihen auf haarsträubend unverantwortliche Weise an ihre politische Klientel verteilten, statt sie vernünftig zu investieren.

Der Großteil der Gesellschaft, der heute das Image Griechenlands im Ausland prägt, gewöhnte sich rasch an einen trügerischen Wohlstand und ein Konsumniveau, die in keinem Verhältnis zu den ohnehin geringen, obendrein schwindenden Kräften der realen Wirtschaft standen. Gier und Zynismus traten an die Stelle fast aller Werte, die einst das nationale Selbstbewusstsein bestimmten. Die griechischen Politiker, wegen der Funktionsweise der Parteien von immer niedrigerer Qualität, korrumpierten ihr Volk, indem sie auf Politik verzichteten und nur noch ihre Eigeninteressen verfolgten.

Aber ist der Verzicht auf Politik denn nur ein griechisches Problem? Ist die bedingungslose Kapitulation der politischen Eliten Europas vor den Finanzmärkten nicht selbstmörderisch für die politischen Systeme und erdrückend für die Völker des Kontinents? Müssen wir heute nicht mit ansehen, wie der zunehmende Rückfall in kurzsichtige nationale Interessen die europäische Einheit zu zerstören droht? Am Ende einer solchen Entwicklung – einem Ende, das nicht in der fernen Zukunft liegen dürfte – könnte man die Frage stellen, ob irgendein europäisches Land, und das betrifft nicht nur Griechenland, zu Europa gehört.

Demosthenes Kourtovik, 1948 in Athen geboren, ist Schriftsteller und Literaturkritiker. Auf Deutsch sind seine Romane „Der griechische Herbst der Eva Anita-Bengtsson“ (Manesse), „Die Mumie des Ibykus“ (Reclam Leipzig) und „Die Nostalgie der Drachen“ (Axel Dielmann Verlag, Frankfurt am Main) erschienen.

Demosthenes Kourtovik

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