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Linda Fredriksson (Mitte) beim Auftritt ihrer Band Juniper im Glasshouse.

© Maarit Kytöharju

We Jazz Festival 2021: Grummeln, tosen, driften

Ins Freie drängen und das Wilde wagen: Eindrücke vom We Jazz Festival in Helsinki.

Was geht da oben vor sich? Die Blicke der vorbeibummelnden Menschen schweifen hoch am Glasshouse, einem Kunstzentrum in Helsinkis Innenstadt. Durch die großen Fenster kann man dort im ersten Stock mehrere Silhouetten ausmachen: Oberkörper, die sich zum energischen, aber losen Puls der Musik bewegen. In der Mitte steht eine junge Frau. Sie wippt nach vorne und nach hinten, und produziert mit ihrem Baritonsaxofon ein tiefes Grunzen und Grummeln, das die Neugier der Menschen auf der Straße weckt.

Drinnen sitzen knapp hundert Menschen in einem modernen, in violettes Licht getränkten Saal und lauschen dem Quartett von Linda Fredriksson. Die Musik der Finnin, ihr Projekt Juniper changiert zwischen zwei Polen, die sich an zwei Saxofonen festmachen: Mit dem Baritonsaxofon treibt sie ihr Band auf auf energisch drückende Weise an, dann wieder wird es träumerisch vernebelt und mit melodiösen Folk-Anleihen, wenn sie auf dem Altsaxofon über warme Rhodes-Keyboard-Flächen spielt.

Atomic bei ihrem letzten Helsinki-Auftritt

Juniper treten beim We Jazz Festival auf, das eine Woche lang in der finnischen Hauptstadt einen Einblick in die lokalen und internationalen Szenen gibt. Seinen Namen hat das seit einigen Jahren auch im Ausland bekannte Festival vom We Jazz Label, bei dem nicht wenige der beteiligten Musikerinnen und Musiker, ihre Alben veröffentlichen.

Dass die Pandemie auch hier einiges ins Wanken gebracht hat, zeigt sich am Donnerstag: . Das schwedisch-norwegische Quintett Atomic, das mit seiner treibenden, ultrapräzisen Form des Free Jazz die skandinavische Szene seit 20 Jahren prägt, spielt auf dem We Jazz einen seiner letzten Gigs. Oder ist es vielleicht sogar der allerletzte? Denn die Abschiedstour, die auch drei Konzerte in Berlin enthalten sollte, steht nun unter einem mehr als fraglichen Stern. Klar ist: In Helsinki spielen die Veteranen zum allerletzten Mal.

Offenbar unbeeindruckt von der Melancholie, die das Konzert umgibt, braust das Ensemble in einem Mordstempo los. Trompeter Magnus Broo bläst aberwitzig präzise Toneskapaden, darunter hämmern Saxofonist und Bandleader Fredrik Ljungkvist und Pianist Håvard Wiik ihre rhythmischen Einwürfe mit einer solchen Lässigkeit hin, die zeigt, wie gut diese Gruppe eingespielt ist.

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Zwei ganz unterschiedliche Ausprägungen einer ins Freie drängenden Musik – beide von begnadeten Bassisten angeleitet – folgen am Freitagabend: Den Auftakt macht Antti Lötjönen, der 2020 sein Debütalbum „Quintet East“ auf We Jazz veröffentlichte. Seine Gruppe spielt ohne Harmonieinstrument, und diesen Raum füllt Lötjönen mit einer massiven Spielweise am Kontrabass aus, die sich gegen die drei Bläser seiner Band stemmt. Lötjönens Kompositionen greifen den experimentellen Jazz der Sechziger auf, – Eric Dolphys Klassiker „Out To Lunch“ ist eine unmittelbar aufblitzende Assoziationsfläche – der sich aus dem Bebop-Gerüst zu befreien versuchte, mit dem sich große Teile der Jazzmusiker des Vorjahrzehnts noch auseinandersetzten.

Das schwedisch-norwegische Quintett Atomic beim We Jazz Festival

© Maarit Kytöharju

Im Anschluss präsentiert der schwedische Bassist Petter Eldh sein Projekt Koma Saxo. Zu der Rhythmusgruppe und den zwei Saxofonen stößt die schwedische Sängerin Sofia Jernberg: Zusammen haben sie ein Album aufgenommen, das demnächst erscheint. Elementarer Bestandteil der Band ist die unverwechselbare Instrumentalstimme Otis Sandsjös, der wie kaum ein anderer das perkussive Potential des Saxofons auslotet, in dem er so genannte False Fingerings und die Klappengeräusche seines Instruments einsetzt, um mithilfe von Zirkularatmung hypnotisierende rhythmische Figuren und Loops zu kreieren.

Einen anderen wichtigen Pol der Band bildet der Berliner Schlagzeuger Christian Lillinger, der an diesem Abend jedoch mit seiner flamboyanten Spielweise des Öfteren gegen die anderen Bandmitglieder zu spielen scheint. Gerade bei den balladenartigen Stücken, auf denen die facettenreiche Stimme Jernbergs im Zentrum steht, wirkt das üppige Spiel Lillingers häufig deplatziert.

Nadin Deventer vom Jazzfest Berlin spricht auf einem Panel

Vormittags stehen unter anderem Panel-Talks auf dem Programm. So sprechen etwa der künstlerische Leiter des We Jazz, Matti Nives, der niederländische Jazz-Kurator Mike Bindraban und Nadin Deventer vom Jazzfest Berlin über Herausforderungen der experimentellen Kuration. Besonders die Schilderungen Deventers, die es geschafft hat, dem Jazzfest in den vergangenen Jahren durch ein stringentes, äußerst diverses Programm große Aufmerksamkeit zu verliehen, zeichnen dabei ein eindringliches, aber auch erschreckendes Bild der Generationenkämpfe und Besitzansprüche in der deutschen Jazzwelt.

Am Samstag stellt Jazz-Journalist Ashley Kahn seine Forschung zu John Coltranes „A Love Supreme“ in den Kontext neu entdeckter Live-Aufnahmen des Ausnahmemusikers. Danach geben Sandsjö und Eldh, die mit ihren zahlreichen Projekten einen Fixpunkt im Festivalprogramm bilden, einen Einblick in ihren Arbeitsprozess: Das Publikum schaut auf eine Mini-Reproduktion ihres Studios, das auf der Bühne aufgebaut ist.

Petter Eldh (Mitte) und sein Projekt Koma Saxo.

© Maarit Kytöharju

Dort demonstrieren die beiden in Berlin lebenden Musiker zusammen mit dem finnischen Schlagzeuger Teppo Mäkinen, wie sie arbeiten. Sandsjös Saxofonlinien werden von Eldh auf der MPC, einem Hardware-Sampler, zerschnitten und neu arrangiert, darüber spielt Mäkynen einen wankelnden Schlagzeuggroove, der wiederum von Eldh am E-Bass angedickt wird. Nach nur einer Stunde entsteht so das Gerüst eines neuen Stücks, das gleichzeitig veranschaulicht, mit welch simplen Mitteln heutzutage professionell klingende Musik aufgenommen werden kann.

Wenn es einen Wermutstropfen während der abwechslungsreichen und gut besuchten Festivaltage gibt, dann ist es die fehlende Diversität: Außer Linda Fredriksson spielt keine weibliche Instrumentalistin auf den Hauptbühnen in Helsinki – was der gut durchmischten skandinavischen Jazzszene nicht gerecht wird.

Y-Otis spielen am Ende ein furioses Konzert

Und auch der Auftritt der Psych-Rock-Band Death Hawks hinterlässt am Final-Tag einen faden Beigeschmack: Das Set, das ausschließlich aus Covern des in den vergangenen Jahren gerade von jüngeren Hörerinnen und Hörern wiederentdecken, afrofuturistischen Pioniers Sun Ra besteht, soll etwas wie eine Hommage darstellen. In ihren farbenfrohen Kutten und den von ägyptischer Mythologie inspirierten Kopfbedeckungen, die die Ästhetik des Arkestras imitieren, wirken die vier Finnen jedoch wie ein Gimmick.

Schließlich hat Sun Ra nicht aus Vergnügen den Mythos geschaffen, seine Band stamme vom Saturn, und sei gekommen, um die menschliche Bevölkerung mit Musik zu unterrichten. Dazu brachten ihn seine tiefgreifenden Entfremdungserfahrungen, die er als schwarzer Menschen in den USA machte. Die Musik Sun Ras ist höchst politisch. Beim unkontextualisierten Auftritt der Death Hawks jedoch wirkt sie wie ein leicht konsumierbares, vergnügsames Schauspiel.

Der Festivalabschluss im Ääniwalli – einem Club, in dem normalerweise Techno aus der überdimensionierten Anlage tönt – ist geprägt von Kontrasten. Auf der einen Seite sind sphärischen Klänge zu hören, etwa von Keyboarder Dan Nicchols, dessen Show von schwebenden, mit Hall angereicherten Klavierimprovisationen lebt, die mit porösen Synthesizertexturen verschichtet werden.

Auf der anderen Seite stehen mit feuerwerksartiger Energie geladene Auftritte wie das Solo-Set des Schlagzeugers Jason Narazy, der sein Modular-Synthesizer-System mit einem SP-404-Sampler kombiniert und so elektronische Fragmente und Pulse in Loops verwandelt, über die sein Schlagzeugspiel in Wellen hinübertost. Oder die Gruppe Y-Otis (das Projekt Sandsjös), die in ihrer furiosen Show Hip-Hop, elektronische Elemente und die Free-Jazz-Tradition zu einem scharfkantigen Mix verschmilzt. Ein später Höhepunkt in Helsinki.
[Die Recherche wurde unterstützt vom Goethe Institut.]

Ken Münster

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