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Neuer Blick. Sansal glaubt, die Berlinale wird seinen Schreibstil verändern.

© AFP

Kultur: Gruppenbild mit Dichter

Außenseiter in der Heimat – und Poet in der JURY Eine Begegnung mit dem Algerier Boualem Sansal.

Jeden Tag läuft er über den roten Teppich. Oder knapp daneben entlang, wenn er den Eingang rechts vom Laufsteg der Stars nimmt, um in den Berlinale-Palast zu kommen. Doch so oder so sind die Aufmerksamkeit und die Ehre für den algerischen Schriftsteller Boualem Sansal immens: Er ist Jury-Mitglied der Berlinale, des drittwichtigsten Filmfestivals der Welt, neben Weltstars wie Mike Leigh und Charlotte Gainsbourg. Und das ist ausgesprochen ungewohnt für ihn. Zu Hause, in Algerien, lebt Sansal isoliert, vom Regime und den offiziellen Medien ignoriert, fast wie in einer Art „Hausarrest“, wie Sansal es selbst nennt; ihre Jobs haben seine Frau und er längst verloren, weil seine Romane und seine harsche Polit-Kritik dem Regime nicht passen.

In Algerien wird er totgeschwiegen oder als „Verräter“ diffamiert. Insbesondere, weil er den Mythos der Freiheitsbewegung ankratzt und den Machthunger von deren Erben anprangert. Der Kontrast zwischen seinem Status im Ausland und in der Heimat „ist schon hart“, meint der 62-Jährige. „Das macht krank“. Obwohl er sich keine Illusionen über die Führung seines Landes macht, hatte Sansal doch gedacht, dass sich nach seiner Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im vergangenen Oktober etwas ändert, dass er daheim mehr wahrgenommen wird. „Ich dachte, dass die Führung dem staatlichen Fernsehen oder der Regierungspresse Instruktionen gibt, mich zu interviewen.“ Aber passiert sei „absolut nichts“. Niemand, nicht einmal Universitäten, wendeten sich an ihn.

Allerdings will das Regime sich wohl nicht mehr den Vorwurf machen lassen, seine Bücher seien in Algerien verboten. Bei der Buchmesse von Algier im Herbst soll die Kulturministerin schnurstracks auf den Stand des französischen Verlagshauses Gallimard zugegangen sein, bei dem Sansals Bücher seit Jahren in Frankreich erscheinen. „Wo sind die Bücher von Boualem Sansal?“, habe sie gefragt, wie dem Schriftsteller berichtet wurde. Als die Verlagsleute verdutzt antworteten, man habe keine Bücher dieses Autors dabei, habe die Kulturministerin sich überrascht gezeigt. Boualem Sansal lacht, ein bitteres Lachen.

Auch in der Jury der Berlinale ist Sansal ein Außenseiter, aber auf andere Art: Er ist Schriftsteller und der einzige, der nicht mit Bildern arbeitet, sondern allein auf die Macht der Worte setzt. Um damit gegen die „Grabesruhe“ in seinem Land anzukämpfen. „Das Festival und die Diskussionen mit den anderen Jurymitgliedern sind für mich außergewöhnlich“, sagt Sansal. Und sie hinterlassen Spuren: „Das wird meinen Schreibstil verändern“, ist er sich sicher. „Er wird visueller werden.“

Zwar hat er wenig Zeit, sich Filme oder Diskussionen zu den Umwälzungen in der arabischen Welt anzusehen, die im Rahmen der Berlinale laufen. Aber ob das Interesse an den Revolutionen nachhaltig ist oder ein vorübergehendes Modephänomen, will er gar nicht diskutieren: „Alle Scheinwerfer sollen auf die arabische Welt gerichtet bleiben, das Wegschauen muss ein Ende haben.“ Nur eins bedauert der sanfte Mann wirklich: Niemand schaut nach Algerien, wo Präsident Bouteflika die Menschen „moralisch und kulturell tötet“. Das sei „ein kultureller Genozid“, meint der Literat und holt tief Luft. Gleich geht es zum nächsten Wettbewerbsfilm. Andrea Nüsse

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