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Locker auf Hockern. Der ameriknaische Schriftsteller Gary Shteyngart.

© IMAGO

Gary Shteyngarts "Kleiner Versager": Heißhunger auf die Welt

Geboren in Leningrad, zu Hause in New York: Gary Shteyngart und sein hinreißendes Buch "Kleiner Versager" - Memoiren mit Anfang 40!

Es ist ein Gruppenfoto, wie es Hunderttausende gibt in alten Familienalben, 15 Leute in drei Reihen, ganz vorne die Kinder. Aufgenommen wurde es 1940 in der Ukraine, „der Vater des Autors“, so heißt es in der Bildzeile, sitzt auf dem Schoß seiner Mutter, Zweiter von links. Und dann noch dieser Satz: „So gut wie alle anderen werden bald sterben.“

Oder ein anderes Foto, denn das Buch ist auch ein Fotoalbum, mit Schnappschüssen in Schwarz-Weiß, viele unscharf wie die Erinnerung, jedes der 25 Kapitel beginnt mit einem Bild und einem kleinen Kommentar dazu. Es zeigt den Autor, sieben Jahre alt, mit seiner Oma in Rom, Zwischenhalt auf der Auswanderungsreise nach New York. „Sie hat drei Kilo Seife aus Leningrad mitgebracht“, heißt es im Begleittext. „In einer sowjetischen Nachrichtensendung hatte sie gehört, dass Amerika unter Seifenmangel leidet.“

Bitter oder heiter, aber immer mit Wärme für den Gegenstand

Ob lapidar als scharf in die Szenerie hineinschneidendes historisches Faktum, ob als zärtliche Reminiszenz an familiäre Überfürsorge oder, wie später, als selbstironischer Blick auf einen Heranwachsenden, der sich kiffend und saufend zudröhnt: Die pointierten Anmerkungen zu den Bilddokumenten setzen den Ton, bitter oder heiter, immer mit einer Wärme für ihren Gegenstand. „Kleiner Versager“ hat Gary Shteyngart seine Lebenserinnerungen überschrieben, ein zartes Zitat seiner jüdischen Mutter, die ihr kränkliches Außenseiterkind in den ersten Jahren in Amerika „failurtschka“ nannte, ein kurioser Wortbastard aus dem Amerikanischen und dem Russischen. Es ist die Autobiografie eines Anfangvierzigers, und natürlich hat man Gary Shteyngart gleich die „Warum so früh?“-Frage gestellt. „Russische Männer“, pflegt er darauf zu antworten, „leben nicht sehr lang.“

Das darf man durchaus als kokett verstehen; schon weil Shteyngarts Vater, um den diese insgesamt chronologisch voranschreitenden, im Detail elegant zwischen Zeit- und Denkräumen springenden Memoiren beträchtlich kreisen, im letzten Kapitel Anfang siebzig ist, die Mutter Mitte sechzig. Es trieb den Autor wohl eher das Bedürfnis, sich nach drei im Vierjahresabstand vorgelegten, höchst fabuliervergnügten Romanen einmal gültig zu orten. So wie man zuweilen eine biografische Strecke bewusst abgeht, um eine Fläche wenn nicht zu umzäunen, so doch einzufrieden.

Drei fabuliervergnügte Romane - und nun die Realien

Nicht dass die mit seinem eigenen Lebensalter mitwachsenden Helden in „Handbuch für den russischen Debütanten“, „Snack Daddys abenteuerliche Reise“ (Originaltitel: „Absurdistan“) und „Super Sad True Love Story“ dem real existierenden Gary Shteyngart total unähnlich gewesen wären. Aber er hat sich selber im Gewand dieser auch international wachsend erfolgreichen Romane – mal spielen sie in einem an Prag erinnernden wildöstlichen Prawa, mal in einem fiktiven postsowjetischen Mafia-Ölstaat oder zuletzt in einem New York der näheren, böseren Zukunft – bis zur Unkenntlichkeit larviert. Nun war es offenkundig an der Zeit, aus alldem ein Quartett zu bündeln. Und siehe da, das aufmerksam gesichtete und möglichst unverstellt sortierte biografische Material erweist sich als famoser Erzählstoff, kaum dass der Shteyngart-Blick drauffällt.

„Ich werde hungrig geboren“, so benennt er einen ersten Befund. „Heißhungrig. Ich will die Welt aufessen und werde nie satt.“ Um 300 Seiten später, da ist er längst College-Student und endlich mit Freundin gewissermaßen ein zweites Mal geboren, fast textgleich festzustellen: „Ich möchte die Welt kennenlernen, anfassen, schmecken und nie wieder loslassen.“ Ein Gargantua also, ein Epikuräer zumindest gewinnt da Kontur, einer, der sich schließlich im Schreiben seines Erstlings – und stets frei von Schreibblockaden – zu seiner Bestimmung bekennt. Dazwischen aber geht es für das 1972 in Leningrad geborene und 1979 mit den Eltern nach Queens ausgewanderte Kind von Schattenzone zu Schattenzone, bis in die mittlere Jugend hinein. Auszuhalten ist das, zumindest in der Retrospektive, nur mit Humor. Und tatsächlich: Gejammert wird nie in diesem Lebensbericht, Selbstmitleid hat in dieser éducation mentale (und bald auch sentimentale) zwischen den Kulturen Russlands und Amerikas keinen Platz.

An der jüdischen Grundschule nennen sie ihn "russischer Stinkbär"

Jahrelang wird der asthmakranke Junge in Russland mit Schröpfkuren gequält, bevor er in Wien sein erstes Asthmaspray bekommt. Kaum in New York, wird er, grotesk gekleidet und des Englischen nicht mächtig, an der jüdischen Schule als „russischer Stinkbär“ gehänselt. Die Eltern – der Vater eigentlich Maschinenbauingenieur, die Mutter Klavierlehrerin – schlagen sich mit neuen Jobs durch, werden einander fremd; der Vater prügelt den Sohn schon mal mit „Nackenklatschern“, die Mutter straft Mann und Sohn ihrerseits mit Schweigen. Fernsehen gibt es nicht im Einwandererhaushalt, der kleine Gary, der ursprünglich Igor hieß, kommt in der Mitschülerwelt lange nicht an. Und dann verschaffen ihm den ersten Respekt ausgerechnet selbst geschriebene Sci-Fi-Stories, die er in der Klasse vorlesen darf.

Trotz allem: Die Liebe dieses Einzelkinds zu seinen Eltern – und auch umgekehrt – ist unzerstörbar, und aus derlei dem kargen, spröden Alltag abgerungenen Szenen bezieht „Kleiner Versager“ seine eigentliche Wucht. Das hinreißend erzählte Versteckspiel mit dem Vater auf dem Moskauer Platz in Leningrad, eine frühe Kindheitserinnerung, gehört ebenso dazu wie eine Abmachung, die Gary mit seiner Mutter am ersten Schultag in der Highschool trifft. Nach dem Unterricht will sie unauffällig auf den 15-Jährigen (!) warten, um ihn auf dem „gefährlichen“ Nachhauseweg zu begleiten; der Junge aber verleugnet die Mutter und geht mit neuen Freunden lieber Frisbee spielen im Central Park.

Zartheit und Ironie - wie bei Philip Roth

Das sind Szenen, wie sie ein Philip Roth oder Mordecai Richler, Shteyngarts Idole, nicht schöner hätten erfinden können. Überhaupt ist „Kleiner Versager“ dort am stärksten, wo die Geschichte sich auf das innige und doch zwangsläufig sich lösende Verhältnis zu den Eltern konzentriert. Dass sie nicht nur Erinnerungslieferant für ein um sich selbst kreisendes Ich sind, sondern ihre eigene schmerzhafte Geschichte haben, zeigt sich, als das Trio in die Stadt zurückreist, die längst wieder St. Petersburg heißt. Drei Erwachsene begegnen sich da und führen ihre Leben zusammen, der Sohn nun mit neuer, selbst gestellter Aufgabe: „Es ist Zeit für mich zu schweigen. Es ist Zeit zuzuhören, anstatt zu sprechen.“ Schon treten Wahrheiten zutage. Ein paar Lügen auch dürfen bleiben, Hauptsache, es sind kleinere.

Gary Shteyngart. Kleiner Versager. Aus dem Englischen von Mayela Gerhardt. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg. 474 S., 22,95 €

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