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Kultur: Ich lebe. Ich sehe

Drei Ausstellungen über das Erinnern in der Gegenwartskunst in Wolfsburg und Hannover

Ein riesiger abgedunkelter Raum, wandfüllend mit tausend Schwarzweiß-Fotos bedeckt: vornehmlich Porträts, nur einige wenige Gruppenaufnahmen. Die Bilder sind ganzoffensichtlich Familienalben oder erkennungsdienstlichen Dokumenten entnommen und mal mehr, mal weniger scharf je nach Vorlage für diese gigantische Galerie vergrößert worden. Automatisch versucht der Betrachter sie einzuordnen; Kleidung, Frisuren lassen vage die 30er, dann wieder die 80er Jahre erkennen. Das ungute Gefühl, hier in die Gesichter von Opfern zu schauen, verstärkt sich durch die funzelige Beleuchtung, schlichte Bürolampen, die direkt unter der Decke oberhalb der ersten Bilderreihe klemmen. Christian Boltanski ist ein Meister der ahnungsvollen Inszenierung. Er zieht einen Gazeschleier des Nebulösen über die aberhundert anonym Porträtierten und will doch gerade das Gegenteil bezwecken: erinnern.

Die riesige Rauminstallation des franzsösischen Archivkünstlers gibt den Grundton vor in der Gruppenausstellung „Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst“ im Kunstmuseum Wolfsburg. Ein Widerspruch, denn Vergessen werden soll hier eigentlich nichts, ja mehr noch als ums Erinnern geht es um das Gedenken. Gerade darin besteht die edelste Pflicht der Kunst. Die Basler Kuratorin Katharina Schmidt hat einmal gesagt: „Es bleibt nichts, nur der Kunst, an das Vergessen zu erinnern.“ Die Kunst vermag der Schnelllebigkeit des Alltags markante Bildfindungen, Momente des Innehaltens entgegenzuhalten und gerät häufig selbst in den Strudel alles Visuellen hinein.

Eine Ausnahme bildet der belgische Künstler Luc Tuymans. Der enorme Erfolg seiner Malerei liegt gerade in der Entschleunigung und der höchst subtilen Textur seiner Gemälde, die sich kaum reproduzieren lassen. So neuartig seine Bildlösungen auch erscheinen, sie entspringen doch dem kollektiven Gedächtnis oder lassen sich über wenige Hinweise sofort daran koppeln. Das verschattete Bildnis eines uniformierten Mannes in Grisaille trägt den Titel „Himmler“ – mehr braucht es nicht, um zu begreifen. Der Augenblick des Erkennens birgt auch schon die bittere Erkenntnis. Tuymans kultiviert diese schreckhaft-schöne Erfahrung in der Gegenwartskunst wie kein Zweiter.

Die großen Spezialisten im Spurensuchen und -auslegen aber sind die Franzosen und dürfen nicht fehlen: Annette Messager mit ihren ausgeweideten Kuscheltieren, die an Angst und Aggression der Kindheit erinnern, oder Sophie Calle mit ihrer Reise zu Orten entfernter DDR- Symbole in Ost-Berlin. Individuelle Psyche und Politik verweben sich in ihren Tiefenbohrungen des Alltäglichen zu einem feinen Gespinst. Die deutschen Großmaler Jörg Immendorff und Anselm Kiefer dagegen zelebrieren in ihren Erinnerungsstücken nur ihr eigenes Ich mit Riesengemälden oder Monumenten, selbst fürs Scheitern. So zog Kiefer nach Ehescheidung und endgültigem Aus für seinen Kunstpark im Odenwald mit einem Bildermüllstapel einen Strich unter 20 Jahre Malerei.

Es mag eine national ausgebildete Kultur des Erinnerns, des Vergessens geben. Grundsätzlich aber können wir alle ohne diese menschliche Eigenschaften nicht leben. Diese Grunderfahrung dekliniert sich durch alle Kunst. So ist es kein Zufall, dass parallel in Hannover zwei Ausstellungen ebenfalls das Gedenken umkreisen: in der Kestnergesellschaft der 74-jährige Erik Bulatov, einer der großen alten Männer der russischen Malerei, und im Kunstverein der 36-jährige Brite Jonathan Monk, ein Tausendsassa der neo-konzeptuellen Kunst.

Bulatov entwickelte in den 60er Jahren fern der offiziellen Kunstdoktrin seine Bildsprache und ist doch ohne die traditionelle russische Malerei, den kulturellen Hintergrund der Sowjetunion nicht zu verstehen. Auf seinen großformatigen Gemälden sind stets realistisch gemalte Ausblicke auf den Himmel zu sehen als Symbol der Freiheit, davor erscheinen in riesigen Lettern Begriffe, die in ihrer Ästhetik an den russischen Konstruktivismus erinnern. Bulatov legt auf diese Weise zwei Wahrnehmungsebenen übereinander: einen Imaginationraum und einen Denkraum. Nicht von ungefähr zeigt der Imaginationsraum immer wieder den Blick aus seinem Moskauer Atelier, das er 1990 gen New York und dann Paris verließ. „Ich lebe – ich sehe“ steht darüber in sich perspektivisch verkürzenden Buchstaben geschrieben, die Schlusszeile eines Gedichts des von ihm verehrten russischen Dichters Wswolod Nekrassow. Bulatov hätte auch „Ich denke – ich male“ schreiben können.

Solch getragener Ernst ist Jonathan Monk fern. Der seit sieben Jahren in Berlin lebende Brite spielt mit Begriffen wie künstlerischer Autorschaft. 1994 pinkelte er nach einem Trinkgelage seinen Namen in den Sand, ein Affront gegen die Autorität der Signatur und doch bei allem Ulk eine Markierung des Reviers. Mit typisch englischem Humor sucht er sich seinen Platz zwischen den Größen der Gegenwartskunst, indem er ihre Werke reanimiert und durch seine persönliche Lesart ausgesprochen liebenswürdig kommentiert. Der 74,950 Kilogramm schweren Aluminium-Bodenplatte mit dem Titel „Untitled (Me naked in the kitchen)“ entspricht exakt sein Körpergewicht und sie ist zugleich die Duplikation eines Sol LeWitt. Die fotografische Aneinanderreihung von Leerflächen in der Arbeit „None of the Buildings on Sunset Strip“ zitiert unter umgekehrten Vorzeichen Ed Ruschas berühmte Serie „Every Building on Sunset Strip“.

Monk erinnert sich mittels seiner eigenen Kunst des Schaffens seiner Vorläufer, und das durchaus respektvoll wie etwa in der Fotografie „Me up a tree similar to one painted by Piet Mondrian in about 1915“. Leichtfüßig bewegt sich der Neo-Konzeptualist zwischen Vergangenheit und Gegenwart und reklamiert mit seiner spielerischen Erinnerungsarbeit doch das Recht auf Vergessen. „Today Is Just a Copy of Yesterday (Holiday)“ nennt er seine Installation bestehend aus einem Projektor, der ein einziges Dia zeigt. Tag für Tag wird es während der Ausstellungslaufzeit neu abfotografiert und verblasst mit jedem Mal mehr.

Kunstmuseum Wolfsburg, bis 13. August; Kestnergesellschaft Hannover, bis 28. Mai, Katalog (Kerber Verlag) 32 €; Kunstverein Hannover, bis 16. April, Katalog (revolver Verlag) 27 €.

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