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Produktiv verdrängt. Luise Rinser. Foto: dpa

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Kultur: Ich spüre so viele Seiten in mir

Zum 100. Geburtstag von Luise Rinser zeichnet eine Biografie ihre NS-Verstrickungen nach

Versagen. Entgleisung. Verstrickung. Die deutsche Sprache kennt viele Begriffe, wenn es um die Rolle von Intellektuellen in unfreien Systemen geht. Der Anlass, mit exemplarischen Biografien abzurechnen, liegt dabei nicht notwendig im Werk. So darf man auch die Gründe für die postume Demontage Luise Rinsers, deren Nimbus längst verblasst ist und deren Bücher zumindest die Jüngeren nicht mehr kennen, jenseits von ästhetischen Urteilen vermuten. Wäre sie von den Grünen 1984 nicht als (aussichtslose) erste Frau für das Bundespräsidentenamt auserkoren worden, würden die Biografie, die das geläufige Rinser-Bild nun zurechtrückt, und der am 30. April anstehende 100. Geburtstag die Erregungskurven wohl kaum so ausschlagen lassen.

Dass die über Jahrzehnte hinweg als Moralinstanz geltende Luise Rinser eine in den Nationalsozialismus „Verstrickte“ war, wusste man schon, bevor der Wegbegleiter ihrer späten Lebensjahre, der Theologe und Philosoph José Sanchez de Murillo, Rinsers „Leben in Widersprüchen“ vorlegte. Bekannt war, dass die im März 2002 gestorbene Schriftstellerin in den dreißiger Jahren, damals noch Junglehrerin, als Bardin in der Zeitschrift der NS-Frauenschaft „Herdfeuer“ anfachte, dass sie als BDM-Ausbilderin tätig war und das von ihr später behauptete Publikationsverbot 1942 nicht den Tatsachen entsprach. Das Bild der im Nazi-Kerker schmorenden Antifaschistin, das Luise Rinser insbesondere in ihrer Autobiografie „Den Wolf umarmen“ (1981) kultivierte, hatte schon zu ihren Lebzeiten Risse bekommen. Was die ihr durchaus gewogene Interpretin, die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel, veranlasste, darauf hinzuweisen, es müsse späteren Recherchen vorbehalten bleiben, diese Widersprüche aufzulösen, „wenn sie denn für wichtig gehalten“ würden.

„Wichtig“ sind weniger die Tatsachen selbst, die de Murillo zusammengetragen hat, als vielmehr die Motivationskontexte. Die aus konservativ-katholischem Milieu stammende Rinser fühlte sich schon früh zerrissen: „Ich mag nicht ’ich’ sein ... ich spüre so viele Seiten in mir“, gesteht die 20-Jährige einem älteren Freund. Die „hundert Wege“ allerdings, die die Schulabsolventin noch offen wähnt, verringern sich schnell: Sie wird Grundschullehrerin und ist damit, wie wir aus historischen Untersuchungen wissen, besonders anfällig für eine Ideologie, die die vitalistische „Sehnsucht nach Ekstase“, die Unterwerfung unter Dienst und Gemeinschaft und den Glauben an eine besondere deutsche Auserwähltheit kanalisiert. Im akademischen Proletariat ist Rinser eine Überflüssige, die sich, von jeher extrem ehrgeizig und geltungsbedürftig, anstrengt, die Konkurrenz auszuschalten. Aus dieser Perspektive ist die unentschuldbare Denunziation ihres jüdischen Schulleiters bei der NS-Schulbehörde zu bewerten und ihre fragwürdige Mitarbeit an Propagandafilmen der UfA.

Früh wird andererseits deutlich: Rinser strebt nach mehr, als benachteiligten Landkindern das Schreiben beizubringen. Sie will selbst schreiben. Aber Rinser, der vielfach eine weiblich-erotische „Aura“ bescheinigt wurde, weiß auch, dass dieser Weg über „berühmte Männer“ führt. Die Art, wie sie sich Ernst Jünger, der sie auf Abstand hält, an den Hals wirft; wie sie zumindest bei zwei ihrer späteren „genialen“ Ehemänner – den Musikern Horst Günther Schnell und Carl Orff – den Status sucht und bei den katholischen Theologen Johannes M. Hoeck und Karl Rahner später die Macht. Wie sie schließlich Willy Brandt und den nordkoreanischen KP-Führer Kim Il-sung in ihren Visionen unterstützt: Das ist nicht nur Anerkennungsstreben, sondern eine eingeübte Strategie, wie sich Frauen ihrer Generation einen ebenbürtigen Platz an der Seite der Männer erkämpfen.

Dazu passt, dass Luise Rinser zeitlebens, selbst noch, als sie moralisch stark in die Gesellschaft hineinwirkte, kein im engen Sinn politischer Mensch mit gefestigtem Standpunkt war. Ihr Spagat zwischen katholischem Humanismus und gefühltem Sozialismus wirkte menschlich, und sie teilte mit vielen Deutschen die Neigung, ihre Biografie den neuen Opportunitäten anzupassen.

Rinsers Verdrängungsleistung war enorm, auch was ihr persönliches Leben betrifft. Er sei, schrieb ihr der Brieffreund Hermann Hesse einmal, durch ihr Buch „wie durch einen Garten“ gegangen. Rinser lebte selbst in einem solchen Garten, mit labyrinthischen Wegen, Umwegen, Sackgassen, voller Verführer und Verführungen. Zugleich erkannte sie die Probleme der intellektuell ambitionierten Frau: „Echte Männer“ litten es nicht, „dass eine Frau ihnen irgendwie den Rang abläuft“, offenbarte sie Hesse. Nicht nur Rinsers Werk ist von Dichotomien geprägt, auch ihr Denken und Handeln folgt den Dualismen, die sie eigentlich überwinden möchte. Die depressiv veranlagte, keineswegs in sich ruhende Frau benötigte die Bestätigung von außen – und wie weit sie auch „im Alter noch geliebt“ wurde, lässt der ihr trotz aller Enthüllungen zugeneigte Biograf in der Schwebe. Rinser trieben offensichtlich Erlösungshoffnungen, obgleich sie wusste, dass sie sich nur im Schreiben erlösen konnte. Die „permanente Krise“, in der sie sich lebenslang wähnte, war weder durch Männer, Ruhm oder politische Nobilitierung heilbar. Insofern war sie ein prägnantes Symbol ihrer Zeit – vielleicht sogar im Wissen, dass die Zeit über ihr Werk hinweggehen würde.

José Sanchez de Murillo: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2011. 463 Seiten, 22,95 €.

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