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Nach fotografischen Vorlagen entstanden. Edvard Munchs Nietzsche-Porträt aus dem Jahr 1906. Zu sehen in der Stockholmer Thielska galleriet.

© Universal History Archive/Univer

Ideengeschichte: Magie des Handschriftlichen

Philipp Felsch widmet sich der brisanten Rezeptionsgeschichte von Friedrich Nietzsche.

Kein Philosoph ist im 20. Jahrhundert so inbrünstig verehrt und so heftig gescholten worden wie Friedrich Nietzsche. Den einen galt er als Ein-Mann-Abbruchunternehmen, das die Metaphysik inklusive des Christentums destruierte und neue Werte für absolut freie Geister schuf. Andere sahen ihn als gemeingefährlichen Vordenker des Faschismus.

Das heißeste Eisen im internen Streit um Nietzsche war dessen umfangreicher handschriftlicher Nachlass. Die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre Mitarbeiter hatten daraus ein vermeintliches Hauptwerk in zwei Bänden kompiliert, das zunehmend der völkischen Rechten angedient wurde: „Der Wille zur Macht“. Der Philosoph Karl Schlechta entlarvte es in den späten 1950er Jahren als mit vielen Fälschungen und Unterschlagungen erstelltes Machwerk. Es war der wohl größte Skandal der jüngeren Philosophiegeschichte.

Schlechta sah es als Grundirrtum der Nietzsche-Rezeption an, im Nachlass die Essenz oder das „Geheimnis“ von Nietzsches Denken zu suchen. Für Heidegger etwa war das zu Lebzeiten Veröffentlichte nur „Vordergrund“. Immerhin konnten sich solche Auffassungen auch auf Nietzsche selbst berufen.

„Schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt?“, heißt es in „Jenseits von Gut und Böse“. Auch der italienische Philosoph und Philologe Giorgio Colli, der die deutschen Debatten um den Nachlass genau verfolgte, meinte dem „dionysischen Glutkern“ von Nietzsches Denken in den noch von keinen Publikationsabsichten korrumpierten Notizen nahe zu kommen.

Theorie als Erzählung

Gemeinsam mit seinem Lieblingsschüler Mazzino Montinari wurde er Herausgeber der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches, die ab 1967 erschien. Wenn Philipp Felsch nun ein ganzes Buch der komplexen Entstehungsgeschichte dieser maßgeblichen Ausgabe widmet, scheint das zunächst ein trockenes Thema zu sein. Felsch macht daraus jedoch eine große, passionierte, ein Jahrhundert umgreifende Theorieerzählung, deren Titel „Wie Nietzsche aus der Kälte kam"“ nicht zufällig auf einen berühmten Agententhriller anspielt.

Der Kulturwissenschaftler, der an der Humboldt-Universität unterrichtet, hat bereits ein beeindruckendes Buch über den „Langen Sommer der Theorie“ vorgelegt, in dem er als Ideenreporter beschrieb, wie das Theorie-Taschenbuch zwischen 1960 und 1990 zum Erfolgsgenre wurde. Aus verstaubten Antiquariatsbeständen ließ er noch einmal den Eros inspirierter Lektüre aufsteigen.

[Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung. C. H. Beck Verlag, München 2022. 272 Seiten, 26 €.

In dichter, schlackenloser Erzählweise führt Felsch in seinem Nietzsche-Buch die Themen zusammen: die brisante Rezeptionsgeschichte im 20. Jahrhundert, der Weimarer Nachlass im Spannungsfeld des Kalten Krieges, die Enttäuschung linker Hoffnungen durch den realen Sozialismus, woraus sich vor allem bei Mazzino Montinari eine Hinwendung zur Philologie als Praxis intellektueller Ernüchterung ergab, und schließlich die berührende Doppel-Biografie zweier Freunde, denen der Dienst an Nietzsche zum Lebensinhalt wurde.

Ausführlich schildert Felsch ihre intellektuellen Lehrjahre. Der 1917 in Turin geborene Colli war bildungsbürgerlicher Herkunft und unterrichtete später in Pisa antike Philosophie. Montinari, Jahrgang 1928, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erst einmal Funktionär der Kommunistischen Partei Italiens. Damals stand der Sozialismus im Zenit seiner Strahlkraft. Stalin galt noch nicht als Massenmörder, sondern wurde als Befreier Europas vom Faschismus verklärt.

Hüterin eines Drachenschatzes

Dieser Nimbus zerbrach für Montinari mit dem niedergeschlagenen Ungarn-Aufstand 1956; er distanzierte sich zunehmend. In der DDR aber öffneten ihm die Kontakte, die er zuvor als kommunistischer Kader geknüpft hatte, in den sechziger Jahren die Türen. Westdeutsche kamen nicht so leicht nach Weimar – und sie waren wenig interessiert an Archivarbeit. Heidegger genügte es, Nietzsches Nachlass zum unerschlossenen Vermächtnis zu verklären, auf dem die DDR sitze wie der Drache auf dem Hort.

Zwar wurde Nietzsche in der DDR als vermeintlicher Wegbereiter des „Dritten Reichs“ und „Zerstörer der Vernunft“ (Georg Lukács) tatsächlich mit Bannflüchen überzogen. Montinari staunte aber selbst darüber, dass er keine Probleme hatte, in Weimar an die Manuskripte zu kommen. Er wurde regelrecht hofiert. Andere mochten die graue Schäbigkeit der DDR tadeln; er fühlte er sich dort bald pudelwohl. Während Nietzsche darüber geklagt hatte, dass seine Körperfunktionen durch das klamme Klima Thüringens Schaden nähmen, und immer öfter nach Italien geflohen war, lebte Montanari umgekehrt im kühlen Weimar förmlich auf.

„Stell dir vor“, schrieb er an Colli, „meine Magenbeschwerden sind verschwunden … Ich glaube, dass die Luft in Deutschland und speziell in Weimar wie für mich gemacht ist … Italien kommt mir immer mehr wie ein afrikanisches Land vor.“ 1965 verlegte er seinen Wohnsitz aus der Toskana ganz nach Weimar, um eine Archivmitarbeiterin zu heiraten und eine Familie zu gründen. Die „Magie des Handschriftlichen“ hatte Montinari voll erfasst, und er erlebte über viele Jahre das stille Glück des Entzifferns in seiner schier unerschöpflichen Goldmine.

Anders als Colli war er nicht auf der Suche nach Nietzsches „dionysischer Inspiration“; ihn faszinierte der Blick in dessen Werkstatt – ein eher voyeuristischer als spiritueller Impuls. Mit Sympathie beschreibt Felsch, wie sich bei Montinari die vormalige ideologische Hybris zum Ethos des guten Handwerkers wandelt. Der sei unverdächtig und wolle nur arbeiten, notierte auch der auf ihn angesetzte Stasi-Agent, auch wenn er den Gegenstand von Montinaris philologischem Eifer hartnäckig „Nitsche“ betitelte.

Die Heere beweglicher Metaphern

Das hätte Michel Foucault womöglich gefallen, der in Frankreich gerade das Konzept (oder Korsett) der „Autorschaft“ verabschiedete. Dabei berief er sich auf Nietzsche, der den festen Begriff der Wahrheit bereits zu einem „Heer beweglicher Metaphern“ aufgeweicht hatte. Damit ist eines der großen Themen des Buches angesprochen: die „dionysische“ französische Nietzsche-Rezeption der sechziger Jahre.

Das eher „apollinische“ Vorhaben der beiden Italiener, endlich dank akribischer Nachlass-Entzifferung den „authentischen“ Nietzsche zu präsentieren, kollidierte mit der forciert fröhlichen Wissenschaft der Pariser Poststrukturalisten, bei denen sich der „authentische“ Text in einem Netz der Diskurse und Interpretationen auflöste.

Foucault rief zur wilden Exegese auf. Wer sich vom Prinzip der Texttreue zügeln ließ, war selber schuld. Wiederum konnten sich solche Auffassungen auf Nietzsche berufen: Der entlaufene Altphilologe hatte sein gelerntes Handwerk gelegentlich als „Kauzwissenschaft“ und „geistigen Mittelstand“ verspottet.

Mit subtiler Argumentation arbeitet Felsch heraus, wie sich in den sechziger Jahren jedoch Korrespondenzen ergaben zwischen philologischen Problemen und philosophischen Grundsatzfragen. Wenn Foucault das „Spiel der Zeichen“ vom Zwang des Werk-Gedankens befreien wollte, dann traf sich das eben doch mit einer Editionsabsicht, die Werke und Nachlassfragmente gleichberechtigt nebeneinanderstellte.

So wurde die Kritische Ausgabe wegen ihrer nivellierenden Tendenz in gewissem Sinn eine „Möglichkeitsbedingung“ des französischen Nietzscheanismus, zu dem Colli und Montinari allerdings entschieden auf Distanz gingen. In ihren Briefen sprachen sie ironisch vom „großen Foucault“ und vom „unvergleichlichen Gilles“ (Deleuze). Sie blieben dem Ethos der Exaktheit verpflichtet und fühlten sich wohl in ihrer selbstbewussten theoretischen Abstinenz.

Wendiger Aphoristiker

Giorgio Colli hatte den wendigen Aphoristiker Nietzsche als Gegengift gegen den schwerfälligen Systematiker Hegel gelesen, der im Italien der dreißiger und vierziger Jahre nicht nur von den Linken als Marx-Vorläufer gepriesen wurde, sondern auch der Lieblingsphilosoph der Rechten war; Mussolini versicherte, ein „überzeugter Hegelianer“ zu sein.

Ganz ähnlich verdankte sich die deutsche Nietzsche-Renaissance seit den späten siebziger Jahren, die Felsch gegenüber der schillernderen französischen Rezeption leider marginalisiert, Nietzsches Frontstellung zum Deutschen Idealismus und seiner scharfsinnigen Polemik gegen vieles, was immer noch Common Sense der Linken war.

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Nietzsche war eine erfrischende, tabubrechende Lektüre für viele, die ermüdet waren von den neomarxistischen Theoriebildungen nach 1968. Es erschienen große, viel gelesene Biografien, nicht nur die dreibändige von Curt Paul Janz, sondern auch die mit viel Esprit geschriebene Darstellung von Werner Ross, deren Titel „Der ängstliche Adler“ die Ambivalenz der deutschen Rezeption kennzeichnete.

Sie war im Gestus viel rationaler und abwägender als die wilde, entgrenzende Nietzsche-Emphase der Franzosen. Darüber fehlt ein Kapitel in Philipp Felschs ansonsten so facettenreichem und souverän komponiertem Buch. Es bietet für alle, die an der Ideengeschichte und den Glaubenskämpfen des 20. Jahrhunderts interessiert sind, eine außerordentlich kluge und spannende Lektüre.

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