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Kultur: Im Bichsel-Park

Zum 70. Geburtstag des Schweizer Schriftstellers

Gäbe es eine Maschine zur Verlangsamung der Zeit, sie stünde in Solothurn im schweizerischen Mittelland. Das heimliche Zentrum des Solothurner Gefühls bildet die Genossenschaftskneipe „Kreuz“ und in ihr wiederum die schwarze Baskenmütze Peter Bichsels. 1951, mit sechzehn, trat der Sohn eines Arbeiters in das Lehrerseminar Solothurn ein. Seitdem ist er der Barockstadt verbunden geblieben – der bekannteste und beliebteste Schriftsteller der Schweiz, der sich den „Luxus des Dilettantismus“ erlaubt und sich nach eigener Auskunft jedes Mal zum Schreiben verführen muss.

„Ich glaube, Biographien misslingen immer“, sagt Peter Bichsel: „Sobald jemand versucht, eine Biographie zu leben, wird sie misslingen. Die Karrieristen zum Beispiel: Karriere ist der schrecklichste Feind der Biografie. Wer eine Karriere hat, hat kein Leben mehr.“ Die Biografie und ihre Verhinderung ist sein großes Thema. Mit dem Erzählband „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“ wurde der Junglehrer 1964 mit einem Mal berühmt. Diesen Ruf als Klassiker zu Lebzeiten festigten fünf Jahre später die ebenso genial schlichten „Kindergeschichten“. Sein literarisches Gesamtwerk beträgt mittlerweile nicht viel mehr als vierhundert Seiten in gut zwanzig Büchern. Doch gerade dieses Wenige hat es in sich – die Vereinzelten, die komischen Käuze, die seine Prosaminiaturen bevölkern, verkörpern beispielhaft die existentielle Verunsicherung und Hoffnungslosigkeit. Es ist eine leise, poetisch getönte Hoffnungslosigkeit – etwa wenn sich Frau Blum darüber Gedanken macht, mit dem Milchmann, den sie noch nie gesehen hat, einen Briefwechsel zu beginnen, und es dann doch nicht tut. Oder die Geschichte des Mannes, der beschließt, jedem Gegenstand in seinem Zimmer einen anderen Namen zu geben, bis ihn niemand mehr versteht. „Das Wichtigste verschweigt er“, so Marcel Reich-Ranicki in einer frühen Würdigung, „und eben dieser Zurückhaltung hat die Imagination des Lesers manches Geschenk zu verdanken“.

Heute, zum 70. Geburtstag des erklärten „Wenigschreibers“ wird mit dem 600 Seiten starken Sammelband „Kolumnen, Kolumnen“ der politische Peter Bichsel sichtbar, als sozialdemokratischer Champion des Nationalsports Schweiz-Kritik.

Es ist ein seltenes Glück, Bichsel aus seinen zwischen Ironie, Wehmut und Kauzigkeit schwankenden „Transsibirischen Geschichten“ lesen zu hören, die er bewusst nicht veröffentlicht, um sie frisch zu halten. Einige davon dürfte er heute an seinem Stammtisch im „Kreuz“ zum Besten geben.

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