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Kultur: Im Reich der Wunder

Der Bildhauer Tony Cragg gibt in der Akademie der Künste seine Berliner Abschiedsvorstellung

Die Ausstellungshallen der Akademie der Künste am Hanseatenweg sind immer wieder für Überraschungen gut, auch wenn sie für Kunstpräsentationen denkbar ungeeignet sind: zu niedrig, zu schmal, zu breit, einfach unproportioniert. Trotzdem muss man sie lieben, in dem wunderbaren Düttmann-Bau, erst recht seit dem Debakel mit der neuen Akademie am Pariser Platz, einem regelrechten Anti-Ausstellungshaus. Die neueste Überraschung bereitet der britische Bildhauer Tony Cragg, der unter dem Titel „Das Potenzial der Dinge“ Skulpturen seines letzten Schaffensjahrzehnts ausbreitet und sie mit parallel entstandenen Zeichnungen und Druckgrafiken korrespondieren lässt. „Willkommen auf dem Planeten Cragg“ könnte über dem gläsernen Eingang stehen, denn der 58-Jährige hat den ersten Saal von Stellwänden befreit und seine Skulpturen wie in einem breiten Flussbett aufgereiht. Wie stets bei seinen Werken fangen schon beim ersten Blick die Verhältnisse zu tanzen an: Groß wird klein, und Klein wird groß. Der Besucher fühlt sich wie Alice im Wunderland und erfährt die Befreiung von Zeit und Raum.

Trotzdem ist Cragg nichts ferner als das. Im begleitenden Künstlerbuch gibt er in einem Gespräch mit Jon Wood zu Protokoll: „Ich glaube, dass die Welt in der Zukunft Skulpturen braucht, um über die Form und Struktur vieler Dinge zu entscheiden – wir werden Skulptur und skulpturales Denken brauchen. Ich würde skulpturales Denken gerne auf die Biomechanik anwenden, auf Regierungseinrichtungen, soziale Strukturen usw. Ich meine nicht im Sinne einer Diktatur, wie die Strukturen sein sollen, sondern um die Analyse der Form zu benutzen und sie mit idealen und sogar moralischen Imperativen in Verbindung zu bringen.“

Hier spricht jemand, der sich über Jahrzehnte mit der Beschaffenheit von Strukturen beschäftigt hat, mit der Verdrängung von Raum durch Masse, dem Kräfteparallelogramm, das zum Einsatz kommt, sobald eine Setzung geschieht, den psychotopischen Prozessen. Jener Griff nach dem großen Ganzen, die Verbindung von Skulptur und Mensch ist all seinen Arbeiten anzusehen. Gerade deshalb sind seine halb abstrakten, halb gegenständlichen Arbeiten so beliebt, weil sie dem Betrachter Wiedererkennbarkeit ermöglichen und doch völlig eigenständig sind.

Cragg morpht ein konkretes Objekt in den Raum, etwa eine gewöhnliche Vase, die er in rasanten Drehungen und Wendungen sich zu einem Kolbengefäß wandeln lässt. „Schweinofanten“ nennt der Turner-Preisträger seine Zwittergestalten, die genau jene Verbindung zwischen zwei Spezies bilden, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Zugleich lässt er die Augen des Betrachters genussvoll über die Rundungen rutschen, die Gedanken nehmen Schwung mit jeder weiteren Verschlingung. Ach, dürfte man nur mit dem Finger auf den gleichen Bahnen sausen, aber dem steht das Gebot „Berühren verboten“ entgegen. Entwickelt sind all die Werke nicht am Computer, sondern von Hand mit Styropor oder Ton, bevor sie in Bronze gegossen oder Kunststoff übertragen wurden. Bei einem Versuch mit dem Computer erwies es sich für Cragg, dass der „Intelligenten Technologie“ das nötige Quäntchen künstlerischer Eigensinn fehlt und die Skulptur leblos wirkt.

Das gleiche Prinzip hat der Bildhauer auf das Porträt übertragen und versetzt auf diese Weise die Silhouetten zumeist seiner Assistenten in bizarre Schwingungen. Der Ausgangspunkt, das Profil, ist meist noch erkennbar, doch dann legt die Fantasie auch schon los, bildet Ausstülpungen, ganze Gebirge aus Haaren, bis am Ende eine abstrakte Skulptur entsteht. Berühmtheit haben Craggs Stelen erlangt, die untereinander die Seitenansicht gleich mehrerer Personen staffeln und sich doch mit jeder Bewegung des Betrachters im Raum im nächsten Moment der klaren Erkennbarkeit entziehen.

Für Tony Cragg ist die Präsentation am Hanseatenweg zugleich eine Abschiedsvorstellung von Berlin. Vor fünf Jahren hatte er eine Professur an der Universität der Künste angenommen, gleichzeitig berief ihn die Akademie als Mitglied. In diesem Sommer hat er aufgehört, hier zu lehren, aus privaten Gründen, wie es heißt, nicht aus Frust über die Verwaltungsaufgaben wie bei seinen jüngeren Kollegen Daniel Richter oder Stan Douglas. Die Studenten kann dies nur betrüben, denn Cragg kehrt zurück an die Düsseldorfer Akademie, woher er ursprünglich kam. Dahin ist der Weg von seinem Wuppertaler Atelier sehr viel kürzer. Reisen hat eben auch viel zu tun mit Energie und Raum.

Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, bis 29. Oktober, Di – So 11-20 Uhr. Katalog 34 €. Programm unter www.adk.de

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