zum Hauptinhalt
Der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger, 1955 in Zwettl geboren

© Peter Meierhofer/S. Fischer Verlag

In den Fängen der Kirche: Josef Haslinger erzählt in "Mein Fall" die Geschichte seines sexuellen Missbrauchs

Das Vergehen der pädosexuellen Glaubensbrüder: Josef Haslinger erzählt in „Mein Fall“ die Geschichte seines Missbrauchs in einem Zisterzienserstift

Es ist der 25. November 2018, als sich der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger doch noch entschließt, in Wien die Initiative gegen Missbrauch und Gewalt aufzusuchen, die „Unabhängige Opferschutzkommission“.

Haslinger ist als Jugendlicher missbraucht worden, vom 10. bis zu seinem 14. Lebensjahr, vor allem von einem gewissen Pater Gottfried, der Mitte der sechziger Jahre sein Religionslehrer in der Klosterschule des Zisterzienser Stift Zwettl war:„Ich war zehn Jahre alt, als Pater Gottfried Eder sich für meinen kleinen Penis zu interessieren begann und dabei ganz offensichtlich in Erregung geriet. Ein Zustand, den man als Zehnjähriger eigentlich nicht kennt, wenn man nicht das Pech hatte, von seinen Eltern mit deren Sexualität belästigt worden zu sein.“

"Jetzt bloß keine Hexenjagd"

Haslinger schreibt das in seinem Buch „Mein Fall“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2020. 139 S., 20 €.). Dieses ist einerseits ein Erfahrungsbericht darüber, wie die Kontakte des Schriftstellers mit der „Unabhängigen Opferschutzkommission“ verlaufen sind. Andererseits besteht es aus Erinnerungen an die Kindheit und eben jene Ereignisse im Stift Zwettl, in dem Haslinger Sängerknabe war und später zum Priester ausgebildet werden wollte, sowie der Beschreibung der späteren Missbrauchsverarbeitung, persönlicher und literarischer Art.

Man kann zunächst auf den Gedanken kommen, dass der 1955 im niederösterreichischen Zwettl geborene Haslinger spät dran ist mit seiner Offenbarung; dass sein Gang zu der seit 2010 existierenden Opferschutzkommission spät anmutet, so wie seine, wie er eingesteht, „zynischen“ Antworten auf Fragen von Freunden, warum er nicht früher ausgesagt habe:„Ach, das ist ewig her. Irgendwer muss einen ja in die Sexualität einführen – bei mir waren es halt Zisterziensermönche.“

Haslinger hat allerdings einige literarische Versuche unternommen, um die perversen Annäherungen des Paters Gottfrieds und von zwei anderen katholischen Glaubensbrüdern darzustellen, Pater Maurus König und dem Stiftsorganisten Victor Adolf, unter anderem 1983 die Erzählung „Die plötzlichen Geschenke des Himmels“ und später „Im Spielsaal“.

Hier verbrachte Josef Haslinger einige Jahre als Sängerknabe und Schüler: Zisterzienser-Abtei Stift Zwettl, Waldviertel, Niederösterreich, Österreich
Hier verbrachte Josef Haslinger einige Jahre als Sängerknabe und Schüler: Zisterzienser-Abtei Stift Zwettl, Waldviertel, Niederösterreich, Österreich

© imago/Peter Seyfferth

Und er schrieb 2010 einen nicht unumstrittenen Text für die „Presse“ in Österreich und die deutsche „Welt“ über seine Missbrauchserfahrung, einen Text mit dem Titel „Jetzt bloß keine Hexenjagd“.

Darin versuchte Haslinger zu erklären, warum er sich nicht gegen die Übergriffe gewehrt und geschwiegen hat, warum er nicht ein Leben lang als Opfer von Pädosexuellen gelten, er das Bild eines selbstbestimmten Lebens aufrecht erhalten wollte. „Es war nicht nur eine Last, ein solches Geheimnis zu haben, es war auch etwas Besonderes.“

Als „Grenzüberschreitung“ bezeichnete die „Welt“-Redaktion Haslingers Text in ihrer Anmoderation. Denn dem Schriftsteller ging es nicht zuletzt um das Gefühlsleben eines Jungen dessen erwachende Sexualität, um Zärtlichkeit und Anlehnung, um die Ambivalenz des Ganzen.

Vorgeworfen wurde Josef Haslinger dann, weiterhin auf der Seite der Täter zu stehen, sich zu sehr in deren Psyche einzufühlen, sich immer noch dagegen zu wehren, aus dem Kindheitsparadies brutal vertrieben worden zu sein.

Haslinger ist vorsichtig und reflektiert

Haslinger diskutiert in „Mein Fall“, was ihn damals umtrieb und was für Reaktionen es auf seinen Text gab. Und er schildert, in was für eine Welt er hineingeboren wurde: eine überaus ländlich geprägte, in der ihm beim Umgang mit Tieren schon früh der Sexualakt zu einem Begriff wurde. So sei er damals, gesteht er in „Mein Fall“, auch weniger in eine sexuelle als eine moralische Verwirrung geraten. Ja, er habe sich eher dagegen gewehrt, homosexuell zu sein.

Mehrmals weist Haslinger darauf hin, dass die Täter von damals inzwischen tot seien, es auch einen wirklich guten Pater gegeben habe und ihm weiterhin das Schicksal der christlichen Kirchen nicht gleichgültig sei. Und: „Es scheint so etwas wie ein Schutzbedürfnis der eigenen Kindheit zu geben.“

Trotzdem schreibt er jetzt so schonungslos, wie es ihm möglich ist von Pater Gottfrieds Annäherungen, was dieser explizit von ihm verlangt hat, und auch, was Pater Maurus und Victor Adolf von ihm wollten. Und er benennt auch sonst die Sitten des Klosters: die Atmosphäre der Gewalt, die sprichwörtliche Zucht und Ordnung dort, die jeder Zögling, so auch Haslinger, verinnerlicht hat, wenn es etwa darum ging, jüngere Mitschüler maßzuregeln.

Ob "Mein Fall" eine Befreiung gewesen ist?

Haslinger ist vorsichtig und reflektiert, versucht zu verstehen, wie er als Kind sich verhalten hat, dann als Erwachsener.Und er weiß um die Mauern des Verschweigens und Vertuschens in der katholischen Kirche. Wie schwer es überhaupt ist, so eine Missbrauchsgeschichte zu erzählen, wie widerständig diese nicht nur als literarischer Stoff ist, demonstriert Haslinger in den Passagen, in denen er vor den Zuständigen der Opferschutzkommission sitzt.

Das beginnt allein damit, dass er nicht weiß, an wen er sich bei den auf der Website dieser Institution gelisteten Persönlichkeiten melden soll. Die ehemalige Verfassungsrichterin und zuletzt Interimskanzlerin Österreichs Brigitte Bierlein ist die erste. Das erscheint ihm seltsam genug:„Ich saß einer mir völlig fremden Person gegenüber und erzählte ihr solche Dinge, die noch dazu mehr als fünfzig Jahre zurücklagen.“

Nach Bierlein landet Haslinger bei Waltraud Klasnic, der eigentlichen Leiterin der Opferschutzkommission, die ihn ihrerseits nach einem Gespräch über die Vorfälle im Stift Zwettl wiederum an die Ombudsstelle der Erzdiözese Wien verweist, zu einem „Erstgespräch“ mit einem Professor für Sozialpsychiatrie.

Der hat keine Zeit. Er schlägt einen anderen Mitarbeiter der Ombudsstelle Wien vor. Dieser fertigt schließlich erstmals ein Gesprächsprotokoll an, um den Schriftsteller nach seiner Odyssee sogleich zu bitten, seine Erlebnisse zusätzlich selbst schriftlich zusammenzufassen: Er sei doch Schriftsteller und könne das besser. Bei den Kommissionsmitgliedern entstehe dadurch noch mehr Betroffenheit.

Josef Haslinger hat dem Folge geleistet und dieses Buch geschrieben. Vielleicht bekommt er Entschädigungszahlen von der Kommission, vermutlich ist er nun offiziell als Opfer anerkannt. Ob „Mein Fall“ jedoch eine Art Befreiung gewesen ist, diese Geschichte des Missbrauchs ein Ende gefunden hat, darf bezweifelt werden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false