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David Grossman am Freitag beim Festival LIT:potsdam. Er las in der Villa Jacob.

© Andreas Klaer

Interview mit David Grossman: „Die Israelis fühlen sich wie in einer Falle“

Der israelische Schriftsteller David Grossman über politisches Engagement, Hoffnung und Zorn in seinem Land.

Herr Grossman, Sie sind einer der angesehensten Schriftsteller Israels, und Sie sind politisch sehr engagiert. Wie bringen Sie das zusammen?

Ich bevorzuge es, als Schriftsteller zu arbeiten, Geschichten zu erfinden und diese aufzuschreiben. Eine Welt zu erfinden, ist viel befriedigender, als die Welt zu beschreiben, wie sie gegenwärtig tatsächlich ist. Aber es gibt eben Momente, in denen Frust und Ärger aus mir herausbrechen. Dann muss ich das sofort aufschreiben. Das kann eben nicht fünf Jahre warten wie ein Roman, bis er fertig ist. Doch auch bei einem Meinungsbeitrag oder Essay wähle ich meine Worte sorgfältig und mit Bedacht. Ich vermeide es, die Sprache zu manipulieren. Denn genau das erleben wir tagtäglich.

Inwiefern?

Die Regierung, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, die Militärs, die Medien – sie alle versuchen, die Sprache und damit die Situation zu bereinigen. Es geht ihnen darum, eine Art Polster zwischen den Bürgern und der Realität zu schaffen.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Nehmen Sie nur das Wort „Besatzung“. Sehr viele Israelis wollen es nicht benutzen, sie machen einen großen Bogen um dieses Wort, obwohl es die Realität treffend beschreibt. Und das nun schon seit 51 Jahren. Sie sagen dann: Nein, das ist keine Besatzung. Wir haben uns nur das zurückgeholt, was ohnehin uns gehört. Wer heute von Besatzung spricht, wird sofort als naiver Linker beschimpft.

Muss Literatur in einer solchen Umgebung zwingend politisch sein?

Nein. Wir haben in Israel ganz wunderbare Autoren, die völlig unpolitisch schreiben. Und es gibt einige, die einen politischen Ansatz haben. Jene, die sagen: Wir lassen uns von der Verzweiflung nicht niederdrücken. Wir wollen stattdessen fantasieren, uns etwas vorstellen. Der Ort dafür kann die Literatur sein. Denn die Menschen in Israel fühlen, dass sie in einer Falle feststecken – sie können sich Frieden nicht vorstellen.

Können Sie es?

Ja! Ich denke viel darüber nach. Der Frieden, den ich mir vorstelle, hat jedoch nichts mit der Hollywood-ähnlichen Vorstellung gemeinsam, dass Israelis und Palästinenser Hand in Hand Richtung Sonnenuntergang spazieren.

Wie sieht Ihr Frieden denn aus?

Er basiert auf schmerzhaften Kompromissen und kleinen Schritten. Wie wäre es zum Beispiel mit einer Werkstatt, in der Palästinenser und Israelis gemeinsam Autos reparieren? Oder eine Fußballliga mit palästinensischen und israelischen Teams. Oder ein gemeinsames Orchester. Oder eine Universität, in der über die Ursachen des Konflikts geforscht wird. All das ist möglich. Wir müssen nur mutig genug sein, das anzugehen.

Klingt schön. Doch wer heute in Israel vom Frieden redet, hat einen schweren Stand, wird sogar massiv angefeindet. Erleben Sie das auch?

Ja, leider. Am 19. April war ich der Hauptredner einer alternativen Gedenkfeier für die gefallenen Soldaten und Terroropfer. Dort haben Israelis und Palästinenser gemeinsam ihrer Toten gedacht. Danach bekam ich Drohungen. Die Rechten, die Nationalisten, die Extremisten – sie werden immer aggressiv gegen uns Stimmung machen. Doch das ist für uns kein Grund zu schweigen. Wir machen weiter.

Es heißt, die ganze Gesellschaft sei nach rechts gerückt? Ist das auch Ihr Eindruck?

Auf jeden Fall. Das zeigen schon die vergangenen Wahlen. Netanjahu wird immer stärker. Je mehr die Menschen verzweifeln und frustriert sind, weil es keinen Frieden gibt, desto radikaler, fundamentalistischer und nationalistischer werden sie. Wo die Hoffnung verloren geht, wächst die Aggressivität.

Kann ein Schriftsteller dem etwas entgegensetzen?

Die Realität wird das tun. Irgendwann muss sich Israel entscheiden, ob es weiter ein demokratischer jüdischer Staat bleibt oder ein Apartheidsregime wird. Das meine ich in Bezug auf die besetzten Gebiete. In Israel selbst funktioniert die Demokratie bisher. Es gibt unabhängige Gerichte, Presse- und Meinungsfreiheit. Selbst ein Palästinenser könnte Ministerpräsident werden. In Ländern, die uns umgeben, sieht das ganz anders aus.

In ihrer Rede auf der Gedenkfeier haben Sie sinngemäß gesagt: Israel ist zwar eine Festung, aber immer weniger ein Zuhause. Das klingt nach Enttäuschung.

Wenn Sie wie ich die Möglichkeiten dieser talentierten, ambitionierten und innovativen Gesellschaft sehen würden, die aber gleichzeitig ein anderes Volk unterdrückt und beherrscht, wären Sie dann nicht auch enttäuscht? Es steht in krassem Widerspruch zu dem, woran wir selbst glauben und was wir sein wollen. Die Rechten wollen uns einreden, es gäbe einen Status quo, den man managen könne. Das ist Unsinn. Die Wut, der Frust, die Enttäuschung eines unterdrückten Volkes wird sich irgendwann in einer Explosion entladen. Das wird dann nicht nur die Israelis überraschen, sondern auch die Palästinenser.

Haben denn die Palästinenser in der Vergangenheit alles richtig gemacht?

Der ganze Friedensprozess steckt in einer Sackgasse. Und die Palästinenser sind ebenfalls nicht in der Lage, eine tragfähige Basis für einen vertrauenswürdigen Frieden zu schaffen. Vor allem die Führung hat Angst vor schmerzhaften Konzessionen.

Es mangelt auf beiden Seiten an Vertrauen. Kann Literatur dem entgegenwirken?

Nur sehr begrenzt. Sie kann uns daran erinnern, dass die anderen auch menschliche Wesen sind wie wir selbst. Mit all ihren Schwächen und Stärken. Doch es kommt nun mal auf die Regierenden an: Sie müssen die Welt verändern. Sie müssen großzügig und mutig sein.

Mal angenommen, die Israelis würden David Grossman zu ihrem Ministerpräsidenten machen...

Gott möge das verhindern!

Was wäre Ihre erste Amtshandlung?

Setzen wir weiter unten an. Wäre ich ein Berater des Regierungschefs, würde ich ihm empfehlen: Nehmen Sie das Telefon in die Hand, rufen Sie den Palästinenserpräsidenten an und treffen sich mit ihm. Dann müssen beide versprechen, keinesfalls den Raum zu verlassen, bevor es eine friedliche Lösung für den Konflikt gibt. Denn wenn das nicht geschieht, werden wir unsere dunkelste Stunde erleben. Es reicht nicht aus, eine starke Armee zu haben. Irgendwann wird es eine geben, die stärker, rücksichtsloser, fanatischer und trickreicher ist. Deshalb braucht es einen Frieden. Militär als alleiniger Schutz wird auf Dauer nicht funktionieren.

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