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Seltener Gast in Berlin: Peter Sellars.

© Kevin Higa/Berliner Festspiele

Interview: Peter Sellars: „Amerika, Europa, die Lüge blüht!“

Gastspiel in Berlin: Regisseur Peter Sellars über Shakespeare, Barack Obama und die Zusammenarbeit mit Toni Morrison

Ein seltener Gast in Berlin: Der Amerikaner Peter Sellars, geb. 1957, gehört weltweit zu den wichtigsten Opern- und Theaterregisseuren. Die Spielzeit Europa zeigt als internationale Koproduktion „Desdemona“ (10. - 12.11., Haus der Berliner Festspiele). Den Text der Shakespeare-Variation schrieb die Literatur- nobelpreisträgerin Toni Morrison. Auf der Bühne begegnen sich die New Yorker Schauspielerin Tina Benko und die Sängerin Rokia Traoré (Mali) mit ihren Musikern. Es ist ein meditativer Abend, eine Reise in das Herz der Finsternis und des Schweigens. Rüdiger Schaper traf ihn zum Interview.

Mr. Sellars, Shakespeares „Othello“ scheint für Sie zu einer Obsession zu werden. Sie haben das Stück für die Wiener Festwochen inszeniert, mit Philipp Seymour Hoffman als Jago, und nun sind Sie mit „Desdemona“ unterwegs, Toni Morrisons neuer Version der Eifersuchts- und Polittragödie. Was fasziniert Sie an diesen Figuren?

Die Geschichte begann vor zehn Jahren, als ich in Princeton mit Toni Morrison beim Lunch saß und wir über Shakespeare sprachen. Damals dachte ich: „Othello“ ist wirklich ein schlechtes Stück, oberflächlich, kaum nachzuvollziehen.

Da ist was dran: Dieser Eifersuchtsmord ergibt keinen Sinn, und Desdemona ist eine sehr dünne Figur, ohne eigenen Spielraum.

Ich sah noch viel größere Schwächen: Wie können Jagos Lügen, die vollkommen durchschaubar sind, eine solch fatale Wirkung entfalten? Shakespeare hat auch nie einen Afrikaner gesehen. Wer ist dieser Othello überhaupt, der nicht einmal einen anständigen Monolog bekommt? Ja, ein verdammt flaches Stück, so schien es mir, und dann wurde es ein sehr langes Mittagessen, bei dem Toni mir erklärte, wie falsch ich in Bezug auf „Othello“ lag.

Wie hat Toni Morrison Sie überzeugt?

Sie machte mir klar: Jagos Sprache ist die Sprache von Dick Cheney und Co. ...

... er war Vizepräsident von George W. Bush, der Kriegsstratege und Strippenzieher der Neocons.

Die Sprache ist mächtig: Diese Leute überzeugen dich, zu töten, was du liebst. Sie erklären dir, dass alles, was dir wichtig ist, nicht zählt. Wir sind umgeben von diesen Stimmen, die uns sagen, dass unsere Prioritäten falsch sind. Also haben wir uns zu einem Experiment verabredet: Ich inszeniere „Othello“, und Toni schreibt eine Antwort auf Shakespeare, „Desdemona“.

Sie sagen, dass Shakespeares „Othello“ ein politisches Stück ist, ein Stück, das uns heute trifft und betrifft. Aber Jago/Cheney sitzt nicht mehr im Weißen Haus.

Beim Casting für unseren „Othello“ war Barack Obama noch nicht gewählt, und während der Proben zog er dann als Präsident ins Weiße Haus ein. Als ich dann die Vorstellung sah, war es wie ein Schock: Wir erzählten die Geschichte eines schwarzen Mannes, der so hoch steigt wie kein schwarzer Mann jemals vor ihm. Und in dem Moment, da er den höchsten Punkt der Macht erreicht, machen sich Kräfte bemerkbar – und das schließt seine Freunde ein –, die verhindern wollen, dass dieser Mann Erfolg hat.

Eine ziemlich amerikanische Verschwörungstheorie.

Keineswegs. Zu der Zeit tauchten in den USA die ersten Obama-Hitler-Plakate auf. Es ist nicht einfach eine Verschwörung. Was wir momentan in Amerika erleben, ist viel wilder, befremdlicher. Wir haben einen schwarzen Präsidenten, und plötzlich gibt es diese Gegenbewegung. Leute sprechen aus, was sie früher nur gedacht haben. Es ist offener Rassismus. Auch in Europa gibt es faschistische Tendenzen, in Holland und Italien. Die Lüge blüht! Man kennt die Wahrheit, aber glaubt der Lüge – genauso funktioniert die Geschichte mit dem Taschentuch bei Shakespeare. Ein offensichtlicher Schwindel, ein Komplott gegen Othello, aber niemand sagt etwas. Shakespeare bringt uns in diese Sphäre des schrecklichen Schweigens, das zur Gewalt führt. Schweigen, Lügen und Gewalt! Lügen vor dem Irakkrieg! Shakespeares vermeintlich schlechter Plot erweist sich als unsere Realität. Und jetzt wieder nichts als Lügen: Griechische Bauern sollen weniger Geld bekommen, damit Banker in New York länger Urlaub machen können.

Was hat Toni Morrison mit ihrer „Desdemona“-Version dem hinzuzufügen?

In Shakespeares Zeit waren die Frauen stumm, wie Desdemona, wie Cordelia, König Lears Tochter. Toni füllt diesen Raum des vergifteten Schweigens und lässt die Frauen sprechen, die ja die ersten Opfer des Schweigens sind.

Obama hat seine Wähler enttäuscht. Auch er schweigt, wirkt manchmal wie gelähmt.

Wie Toni Morrison sagt: Gebildete Schwarze leben mit einer ungeheuren Selbstbeherrschung, weil sie immer in Gefahr sind, dass man ihnen vorwirft: Schau, da ist ein Schwarzer in einer Machtposition, und er verliert die Kontrolle. Denn sie sind ja doch nicht so gebildet und intellektuell, sondern Wilde. All diese grässlichen Klischees, die Schwarze auch auf sich selbst projizieren. So wurde Barack Obama erzogen. Verhalte dich in der Öffentlichkeit immer nobel, ruhig, zeige keine starke Gemütsregung, raste nicht aus. Das macht seine Anhänger wahnsinnig: Nun wehr dich doch endlich!

Es ist ein Dilemma der Liberalen. Sie haben keine Antwort auf aggressive Attacken des politischen Gegners, der Tea Party.

Jago bewegt sich absolut frei, denn er kennt keine Regeln. Wer sich an Regeln hält, hat eben Pech. So läuft das jetzt in den USA, wie ein Fußballspiel, bei dem eine Mannschaft die Vorschriften beachtet, während die anderen machen, was sie wollen, die Regeln außer Kraft setzen und nach Herzenslust foulen. Wir haben keine Demokratie mehr. Wenn ich das mit dem antiken Griechenland vergleiche, ist unsere Zeit der Perikleischen Demokratie vorüber, wir sind in eine Periode abgeglitten, in der die Oligarchen herrschen. Die Entscheidungen werden von Leuten getroffen, die nicht demokratisch gewählt sind. Und ausgerechnet in der arabischen Welt, die wir immer für rettungslos rückständig gehalten haben, regt sich ein demokratischer Geist.

Warten wir ab, wie es da weitergeht.

Toni Morrisons Text hat etwas Prophetisches. Bei ihr sprechen die Toten, und sie sprechen über die Zukunft. Sie haben Zeit zu reflektieren. Bei Shakespeare ist Desdemona ja ein Teenager. Sie heiratet Othello am Mittwoch, und Donnerstagabend bringt er sie um, sein perfektes, stummes Geschöpf. Toni Morrison macht sie zu einem Menschen, mit Fehlern und Irrtümern. Jetzt ist sie keine Statue mehr. Bei Toni sagt sie zu Othello: Dein Zweifel und meine Rechthaberei haben unsere Liebe erstickt ... Wunderschön! Ich träume davon, dass unsere Kinder in der High School nicht nur Shakespeares „Othello“ lesen, sondern auch Toni Morrisons „Desdemona“. Er war kein Rassist, aber man kann Shakespeare leicht reduzieren und missbrauchen.

So ist es auch seinem „Kaufmann von Venedig“ geschehen, der häufig für antisemitische Propaganda herhalten musste.

Es gibt bei Shakespeare weder gute noch böse Menschen. Er ist sehr viel komplizierter, subtiler. So sehr ich Shakespeare bewundere, es fehlt etwas, jedenfalls für uns heute. Im Fall von „Othello“ ist es Afrika. Nun haben wir Afrika endlich auf der Bühne, mit Tonis Text und der Musik von Rokia Traoré.

... der Sängerin aus Mali. Rokia Traoré führt mit ihren Liedern wieder ins Schweigen zurück, nach all den vielen Worten, und diesmal ist es ein zartes, nicht vergiftetes Schweigen, eine musikalische Droge.

Schon bei Shakespeare deutet Desdemona an, dass sie ein schwarzes Kindermädchen hatte, Barbary. In Shakespeares Zeit war dieser Name ein Synonym für Afrika. Es war die Epoche, als der Kolonialismus erfunden wurde. Nicht umsonst hat Shakespeare seine Bühne Globe Theatre genannt. Er schreibt am Beginn der Globalisierung, er fragt nach Bodenschätzen, Gewürzen, nach den Handelswegen und fremden Kontinenten. Desdemona wurde also von einer Afrikanerin erzogen, mit afrikanischen Geschichten und Liedern. Deshalb verliebt sie sich nicht in einen venezianischen Edelmann, sondern in Othello, denn auch er kann so wunderbar erzählen von der Ferne, von seiner afrikanischen Heimat.

Toni Morrison hat ihr Stück aus diesem einzigen Satz entwickelt?

Es ist alles schon da, aber man muss es erkennen, hörbar machen. Wenn man Toni Morrison gelesen hat, ist Shakespeare ein anderer. Ich liebe sein Venedig, wo Welten und Kulturen aufeinandertreffen, Afrika, China, in dieser Stadt auf schwankendem Grund mit ihren Schiffen, die ankommen und abfahren. Wenn Sie nach meiner Obsession fragen, dann liegt sie in den beiden Venedig-Stücken, im „Kaufmann“ und „Othello“. Shakespeare liebte Zauberinseln, das märchenhafte Ambiente, so wie es Toni Morrison in ihrer „Desdemona“ ausbreitet.

Diese Inseln der Zauberer, wie in Shakespeares „Sturm“, sind letztlich Theaterwelten, Metaphern der Bühne.

Ja, nichts anderes. Es sind Oasen, ein Ort der guten Stille, wo man tief und frei atmen kann. So haben wir die Bühne für „Desdemona“ entworfen – als Raum für Gefühle und Reflexionen. Einen Raum zum Zuhören. Fast das ganze Budget für die Ausstattung haben wir in Hightech-Mikrofone investiert.

Das ist ein radikaler Gegenentwurf zu Shakespeares lärmendem Globe Theatre.

Es gibt im Augenblick zwei große Bewegungen. Die eine bringt überall auf der Welt die Menschen auf die Straße, und sie sagen Nein zu all den Lügen. Der andere Diskurs ist subtil, fragil, konzentriert. Wir brauchen beides, das große Mikrofon für den Protest und das kleine Mikrofon, mit dem wir in uns hineinhören, in unsere persönlichen Geschichten. Wir brauchen diese Intimität. Das ist meine Vorstellung von Theater, von politischem Theater im 21. Jahrhundert.

Das Gespräch führte Rüdiger Schaper.

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