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Das Harpa, das im Mai eröffnete Konzerthaus des dänischen Architekten Henning Larson mit einer Fassade des Künstlers Olafur Eliasson, will Klassik und Pop eine Heimstatt geben.

© Harpa

Island: Unter der Vulkanasche

Auch die Beastie Boys kamen zwei Tage zum Clubhopping hierher. Island ist Pop, Party, Literatur – und eine Glitzerfassade von Olafur Eliasson: Ein Besuch in der Hauptstadt Reykjavik.

Am Sonntagabend herrscht auf Reykjaviks Ausgehmeile Laugavegur mit ihren zweistöckigen Holzhäusern eine Stille, wie man sie auch von anderen Provinzstädten kennt, von Städten, die kaum mehr als 100 000 Einwohner zählen. Nur vereinzelt fährt ein Auto die schmale Einkaufsstraße hinunter zum Hafen, die Bürgersteige sind leer. Auch in den Bars der Laugavegur sitzt kaum jemand herum.

Vorm Kaffibarinn in der Bergstadastraeti mit seinem von der Londoner UBahn abgekupferten Logo muss an diesem Abend kein Türsteher den Publikumsverkehr regeln. Im vorderen der zwei etwas düsteren Räume stehen isländische Jungmänner vor großen Bieren und singen LL Cool Js „I need love“ mit. Eigentlich sind sie zu jung für LL Cool J, dessen große Zeit in den späten Achtzigern war, aber sie versichern, große Fans des US-Hip-Hops der 80er und 90er Jahre zu sein. Auch im Boston ein paar Schritte weiter ist im oberen Stockwerk gerade mal ein Tischchen besetzt. Aus den Boxen tönen die Black Keys und Jamie Woon; an der Bar steht Gabríela Friðriksdóttir, im Moment vielleicht Islands bekannteste Künstlerin nach Olafur Eliasson. Sie trägt Jeans und Cowboyhut, sagt, sie sei hier Stammgast. Nachts um eins muss auch sie gehen. Sperrstunde.

An so einem tristen Maiabend, wenn sich in den frühen Mittsommertagen die Dunkelheit noch einmal kurz über die Stadt senkt, mag man kaum glauben, dass es hier, im berühmten Ausgeh- und Szenebezirk 101 Reykjavik, in den Nächten zuvor ganz anders aussah. Horden von jungen Isländern und Touristen drängten sich vor den Bars, im Vegamot die Zwanzigjährigen, im Ölstofan die Älteren, im der Bar Bara mit dem Regenbogenstreifen neben dem Eingang die Schwulen und Lesben. Stundenlang fuhren Autos Stoßstange an Stoßstange die Straße entlang, alte amerikanische, von Islands Autonarren zur Schau gestellte Straßenkreuzer genauso wie japanische Kleinwagen mit mindestens vier Personen darin.

Reykjavik zehrt von seinem Ruf, eins der angesagtesten Nachtleben Europas zu haben. Die Stadt der Hotspot von Partytouristen. Jedes Trendblatt, jede Lifestylepostille aus Deutschland oder England sandte Mitarbeiter aus, um das Nachtleben zu erkunden, vor allem jene Kaffibarinn. Die Bar hatte der isländische Schriftsteller Hallgrímur Helgason zum Schauplatz seines Ende der 90er Jahre veröffentlichten Romans „101 Reykjavik“ erkoren und ihr darin ein Denkmal als K-Bar gesetzt.

Noch heute erzählt man sich Geschichten darüber, wie Quentin Tarantino in Reykjavik eine Party feierte, zu der alle Frauen freien Eintritt hatten. Wie Björk und Matthew Barney in der früheren Sirkus-Bar die Nacht zum Tage machten. Wie die New Yorker Beastie Boys aus ihrem Flieger stiegen, um erst zwei Tage später nach London weiterzufliegen. So machen es viele Amerikaner und Engländer auf ihren Flügen zwischen New York und London, was die Isländer mit einem gewissen Stolz erfüllt. Oder wie Daniel Brühl einmal mit seiner Truppe auf der Laugavegur einfiel.

Inzwischen kommen keine Trendberichterstatter mehr. Island macht mit anderen Ereignissen Schlagzeilen, mit Vulkanausbrüchen zum Beispiel, die Europas Flugzeugverkehr zum Erliegen bringen, wie im Fall des Eyjafjallajökulls 2010, oder zumindest ins Stocken geraten lassen, wie beim Grímsvötn vor ein paar Tagen. Und natürlich mit der Finanzkrise 2008, die das Land an den Rand des Staatsbankrotts brachte und unter deren Folgen es noch immer leidet.

Fisch, Aluminium, Pop: In seiner vor der Krise entstandenen Ökofibel „Traumland“ hatte Andri Snaer Magnason diese drei als Hauptexportartikel Islands ausgemacht. Das gilt bis heute. Einen vierten hatte er aber nobel unterschlagen: die Literatur. Island ist Gastland der Frankfurter Buchmesse 2011 und versucht gerade, sich mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen in die Karte der Weltliteratur einzuschreiben.

101 Reykjavik, das Viertel, dem Helgasons Slacker-Roman seinen Titel verdankt, scheint die Krise nichts ausgemacht zu haben. Die meisten der vielen Designer- und Modeläden, der unzähligen Cafés und Bars existieren weiterhin. Das Nachtleben ist eine verlässliche Größe; zusammen mit Fluglinien und Hotels versucht die Stadt, junge Leute mit günstigen Angeboten zum Feiern anzulocken. So setzt auch das Kaffebarinn keine Patina an und altert nicht mit seinem Publikum. Den Partykids ist es egal, in wie viele Romane die Bar Eingang gefunden hat. Sie gehört zur nächtlichen Sause mit anschließendem Absturz genauso dazu wie die anderen Läden. Eine Eigenheit des hiesigen Nachtlebens: Alle sind ständig unterwegs und geben sich der Illusion hin, in einer viel größeren Stadt Clubhopping zu betreiben. 101 Reykjavik hat etwas von einem Party-Ghetto, einem perfekt organisierten Vergnügungspark.

Dass Reykjavik musikalisch auch anderes zu bieten hat, beweist in diesen Tagen die Eröffnung des großen Konzerthauses und Kongresscenters Harpa am alten Hafen der Stadt. Entworfen vom dänischen Architekturbüro Henning Larson, unter künstlerischer Mitarbeit von Olafur Eliasson, der die fischschuppenähnliche Glassteinfassade gestaltet hat, ist das Harpa ein Sinnbild für den Größenwahn, der Teile der isländischen Gesellschaft in den fetten Jahren vor der Krise erfasste. Ein Projekt aus dem Jahr 2007 (in Island sind 2007 und 2008 hoch symbolische Zahlen), dessen Weiterbau nach dem schwarzen Oktober 2008 lange auf der Kippe stand, das aber trotz Protesten doch noch fertiggestellt wurde.

An diesem Abend ist es nur ein kleines Häuflein alternativ gekleideter Menschen, das mit Transparenten und Vogelfutter gegen den Bau und überhaupt den Techno-Gigantismus der isländischen Politik demonstriert. Drinnen lauschen nach einem Begrüßungsgetränk 1500 geladene Gäste in schicker, oft bunter Abendgarderobe den ersten Takten des isländischen Sinfonieorchesters, auf die ein dreistündiges, abwechslungsreiches Musikprogramm folgt. Opernsänger, eine A-capella-Gruppe, ein Pianist und ein ganz in weiß gekleideter Kinderchor treten auf, aber auch die in internationalen Indiepop-Zirkeln bekannten isländischen Gruppen Gus Gus und Dicta oder die Pop-Diva Páll Óskar mit ihrer Glitter-Jazzband Memfismafia.

Dazwischen kurze Reden: von Islands junger, hochschwangerer Kulturministerin Katrín Jakobsdóttir, die einst ihre Dissertation über Islands berühmtesten Krimi-Autor Arnaldur Indrídason verfasst hat. Und von Reykjaviks Bürgermeister Jón Gnarr, der als hauptberuflicher Radio-DJ und Fernsehkomiker nach der Krise mehr aus Spaß eine Partei gegründet hat, „Besti Flokkurin“ (Die Beste Partei). Tatsächlich wurde Gnarr bei den Kommunalwahlen 2009 gewählt, weil er unter anderem kostenlose Handtücher in den Schwimmbädern einzuführen versprach. Nun spricht er im Anzug und mit New-Wave-Kurzhaar-Frisur von „kultureller Revolution“, dem „faulen System“, der „produktiven Widerspenstigkeit“ der Isländer und davon, dass es eine „ganz neue Politik“ geben müsste.

Als das Sinfonieorchester, begleitet vom isländischen Opernchor, die Eröffnungsshow mit einer fulminanten Version von Beethovens Neunter beendet hat, treten alle Beteiligten noch einmal auf die Bühne des ganz in der Farbe roter Vulkanasche gehaltenen vierstöckigen Konzertsaals. Sie fassen sich an den Händen und singen die isländische Nationalhymne. Die ist zwar weitgehend frei von Pathos, treibt vielen im Publikum aber die Tränen in die Augen.

Es ist die Demonstration eines großen Miteinanders, die gesamte Show vielleicht ein Versöhnungsangebot vor dem Hintergrund der Krise, die eine tiefe Kluft zwischen Bankern, Politikern und den Bürgern gerissen hat. Das Harpa soll nicht nur ein Konzerthaus für die Hochkultur und Kongresszentrum sein, sondern allen Bürgern offenstehen und auch dem Pop oder dem Kindertheater eine Heimstatt geben. Die Zeitungen üben tags darauf zwar Kritik daran, dass die Eröffnungsveranstaltung geladenen Gästen vorbehalten war. Aber zum Tag der offenen Tür kommen dann doch über 30 000 Menschen, um das neue Haus in Augenschein zu nehmen.

Wie durchlässig die kulturellen Grenzen auf Island sind, merkt man auch daran, dass Gus-Gus-Sänger Daniél Ágúst Haraldson mit seiner blonden Hippiemähne und dem Ziegenbart zwar nach der Eröffnung mit den anderen VIPs oben in einem der Restaurants mit traumhaftem Blick auf Hafen, Meer und Gletscher sitzt. Dann jedoch verabschiedet er sich mit seinen Bandkollegen für den Rest der Nacht ins Boston und erzählt dort, dass das Singen der Nationalhymne mit all den anderen Künstlern einer der schönsten Momente seines Lebens gewesen sei.

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