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Holt Hearn ins Leben und die Literatur zurück. Die Schriftstellerin Monique Truong, 1968 in Saigon geboren.

© Haruka Sakaguchi/Verlag

"Sweetest Fruits" von Monique Truong: Japan sehen und bleiben

Aus der Perspektive von vier Erzählerinnen: Monique Truongs außergewöhnliche Romanbiografie über den literarischen Weltenbummler Lafcadio Hearn.

Seine Mutter weiß: „Patricio Lafcadio Hearn war von Geburt an hungrig“. Seine erste Ehefrau unterstellt ihm, dass er ein „schrecklicher Geschichtenerzähler“ sei, was er nicht auf sich sitzen lässt: „Im Gegenteil, sagte er, er sei ein hervorragender Geschichtenerzähler, da seine Zuhörer eindeutig mehr hören wollten, und darum gehe es ja beim Geschichtenerzählen.“

Seine zweite Ehefrau, da ist Patricio Lafcadio Hearn schon tot, versucht seinen Tod zu negieren, der Trauer und der damit verbundenen Dunkelheit ein Schnippchen zu schlagen: „Ich hielt mich an deine Geschichte, bis ich wieder für uns beide Atem schöpfen konnte. Wenn man die Geschichte eines anderen erzählt, holt man ihn ins Leben zurück, und du, Gemahl, bist ja noch da.“

Und seine erste Biografin ist, wie es sich für eine Biografin gehört, um einiges nüchterner: „Lafcadio Hearn kam am 27. Juni im Jahre 1850 zur Welt“. Oder: „Der Junge hatte sein Dasein einer seltsamen Mischung aus Ereignissen und rassebedingten Zwängen zu verdanken.“

Nun stellt sich noch die Frage, in was für einem Verhältnis die 1968 in Saigon geborene amerikanische Schriftstellerin Monique Truong zu Patricio Lafcadio Hearn steht. Ob man sie ebenfalls als seine Biografin bezeichnen kann? „Sweetest Fruits“ heißt ihr wunderbarer Roman über Hearn (Aus dem Englischen von Claudia Werner. Verlag C.H. Beck, München 2020. 348 S., 22 €)., ein Roman, der eine Biografie anderer Art ist, eine feministisch grundierte Meta-Biografie.

Auch Stefan Zweig war von Hearn begeistert

Denn Truong fühlt sich ein in die Frauen, die Hearn am nächsten standen und erzählt aus deren Perspektive dessen turbulentes Leben, dem ein Herzinfarkt 1904 ein  Ende setzte.

In Japan war das, wo Hearn seit 1890 lebte, erst in einem Ort an der Westküste, dann in Kumamoto, in Kobe und schließlich in Tokio.

Mit seiner zweiten, japanischen Ehefrau hatte er vier Kinder gezeugt und zahlreiche Bücher über das damals unbekannte Land in Fernost geschrieben, Bücher wie „Lotos. Blicke in das unbekannte Japan“, wie die von Gustav Meyrink herausgegebenen und übersetzten „Gespenstergeschichten aus Japan“ oder „Die Geschichte von Ming-Yi“.

So wurde er schon zu Lebzeiten eine Legende, die das Japan-Bild in Europa und den USA prägte, mit vielen Bewunderern unter den europäischen Kollegen. „Ein Freund“ sei gestorben, schrieb Hugo von Hofmannsthal in seinem Nachruf, „der einzige Europäer, der dieses Land ganz gekannt und ganz geliebt hat.“

Auch Stefan Zweig war begeistert  vom „überschwebenden Glanz" seiner Prosa und gab nach Hearns Tod ein Japanbuch mit einer Auswahl seiner Werke heraus.

Nicht ungewöhnlich also, dass sich sofort auch eine Biografin auf seine Lebensspuren setzte, die Monique Truong als vierte Erzählerin und Gewährsfrau dient. Es ist dies die amerikanische Journalistin Elizabeth Bisland Wiltmore, die ein ähnlich aufregendes Leben wie Hearn führte und für viel Aufsehen sorgte, als sie 1889/90 gegen ihre Kollegin Nelly Bly ein Wettrennen um die Welt antrat, im Geist von Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“.

1906 erschien die erste Biografie über ihn

1906 erschien Bislands Biografie, und natürlich reiste die Amerikanerin dafür auch nach Japan, um Hearns Ehefrau Koizumi Setsu zu treffen.

Truong zitiert zu Anfang ihrer „Sweetest-Fruits“-Kapitel kurze Passagen aus Bislands Biografie, und einmal erinnert sich auch Koizumi Setsu an sie: „Elizabeth war wie du eine Reisende, deren Reisen gut belegt sind.“ Oder: „Sie hatte gefragt, wie alt ich bei meiner Heirat gewesen sei, verlangte aber nicht, dass ich erklärte, warum ich im Alter von zweiundzwanzig noch keinen Ehemann hatte.“

Natürlich ist Hearn die Hauptfigur von „Sweetest Fruits“, drehen sich die Erinnerungen insbesondere der Ehefrauen primär um seine Person. 

Trotzdem zeichnet Troung gleichfalls die Porträts von drei sehr unterschiedlichen Frauen auf drei verschiedenen Kontinenten. Alle drei sind diversen Anfeindungen ausgesetzt, denen ihrer Zeit und der Gesellschaften, in denen sie leben, fremdenfeindlichen, rassistischen, sexistischen Anfeindungen. Sie alle eint ihre Sehnsucht nach Liebe und Zugehörigkeit und dass sie, so gut es geht, sich den widrigen Lebensumständen zu widersetzen versuchen.

Hearns Mutter, Rosa Antonia Cassimati, stammt von den Ionischen Inseln, einer vor Griechenland liegenden Inselgruppe, die seinerzeit zu England gehörte, aus Lefkada. Hier lernt Rosa einen irischen Stabsarzt kennen, sie heiraten, und Rosa bekommt noch auf der Insel zwei Söhne, von denen der erste einjährig stirbt. Mit dem zweijährigen Patricio folgt sie ihrem Ehemann in dessen Heimat, ins nassgraukalte Dublin, wo sie nicht glücklich wird.

Ihr Mann will von ihr nichts mehr wissen, seine Verwandten sind ihr nicht wohl gesonnen, und sie kehrt, ohne Patricio und hochschwanger, zurück auf ihre griechische Insel: „Ich hoffe sehr, Patricio, dass du mir vergibst. (...) Ich, deine Mutter, kann dich nicht noch mehr lieben. Dich zu verlassen ist die größte Liebe, die mir möglich ist.“

Seine erste Ehefrau verlässt Hearn 1877

Hearn besucht dann diverse Schulen in England und eine in Frankreich, verliert ein Auge, besteigt 1869 ein Schiff in die USA und findet sich laut Bisland „ohne einen Penny in den Straßen von New York wieder“. In Cincinnati, wo er zunächst in einer Druckerei arbeitet, lernt er seine erste Ehefrau kennen, die Tochter einer Sklavin, Alethea Foley, die in der Pension als Köchin arbeitet, in der er wohnt. Sie erzählt: „Vor meiner Geburt wurde meine Mutter an die Foley-Plantage vermietet, und Mr. Foley kaufte mich, als ich noch klein war.“

Truong lässt Alethea Leben und ihre Vergangenheit schildern, aber eben auch, wie sie Lafcadio Hearn, der für sie nur „Pat“ ist, kennen- und liebenlernt. Drei Jahre sind sie verheiratet, bevor er mir nichts, dir nichts nach New Orleans aufbricht.

Rastlos. Lafcadio Hearn, 1888.

© Wikipedia

Truong kommt Hearn in dieser Passage vielleicht am nächsten. Hier zeigt sich in der Erzählung Aletheas seine lebenslange Unruhe und Umtriebigkeit; hier wird er von der ersten Zeitung, für die er arbeitet, entlassen, weil er mit einer Schwarzen verheiratet ist; und hier berichtet er in seinen Artikeln mit Vorliebe von den Schattenseiten Cincinnatis, von den Ausgestoßenen der Stadt, den Trinkern in den Bars und Kneipen, den Sklaven und Wanderarbeitern; all das in Form von Berichten, Reportagen und zunehmend novellenhaften Erzählungen.

Jahre später erhält Alethea einen Brief von ihm, auf Französisch, aus Martinique, wo Hearn inzwischen lebt. Unter anderem erfährt sie darin, er habe fünf Bücher veröffentlicht und gedenke noch weitere zu schreiben: „Er behauptete sogar, eines davon sei ein Kochbuch.“

Man braucht ein bisschen Zeit, um sich in Truongs Roman und der Form, den sie ihm gegeben hat, einzufinden; kein Wunder bei dem Leben, das Hearn geführt hat. Lücken in seinem Leben auch dem der drei Frauen gibt es genug. Doch nach und nach erklingen die Stimmen aller Erzählerinnen ganz individuell, die eine religiös durchdrungen, die andere pragmatisch, die dritte trauernd und etwas verloren. Sie alle haben ihre eigene Farbe, ihren eigenen Ton. Was nicht zuletzt daran liegt, dass Truong ihnen stets ein Gegenüber gibt.

Im Fall der Mutter ist es eine bekannte Mitreisende auf dem Schiff, an die Rosa sich richtet, manchmal auch an ihren verlorenen Sohn selbst; Alethea Foley erzählt der Biografin Bisland ihre Geschichte: „Wissen Sie, dass er ein Restaurant besaß, Miss?“. Und Koizumu Setsu wendet sich stets an ihren toten Ehemann und redet ihn in der zweiten Person an.

Der Moderne stand er skeptisch gegenüber

Sie wird später eine eigene Biografie schreiben, als zweite (die für Truong!) und dann „dritte Version“ bezeichnet sie ihre Geschichte, „wie aus Lafcadio Hearn Koizumi Yakumo wurde“ (so der japanische Name Hearns, den er annahm, damit Koizumu und die Kinder japanische Staatsbürger bleiben konnten.) 1918 schließlich erscheinen diese Memoiren tatsächlich unter dem Titel „Reminiscences of Lafcadio Hearn“.

Wer war dieser Hearn? Am Ende meint man es besser zu wissen. Seine Skepsis der Moderne gegenüber, seine Ort- und Rastlosigkeit, seine Neigungen und Toleranz, all das schwingt mit in den Erzählungen der Frauen. Vielleicht ist Monique Truongs Roman die adäquateste Form, um sich diesem außergewöhnlichen literarischen Weltenbummler zu nähern. In jedem Fall fühlt man nach der Lektüre von „Sweetest Fruits“ sofort inspiriert, Hearns im deutschsprachigen Raum zuletzt vermehrt wieder aufgelegten und neu übersetzten Bücher zu lesen: vom Reportagenband „Vom Lasterleben am Kai“, den Truong selbst herausgebracht hat, über „Japans Geister“ in der Anderen Bibliothek bis hin zu den in dem österreichischen Verlag Jung und Jung erschienenen frühen Romanen „Chita. Eine Erinnerung an Last Island“ und „Youma. Die Geschichte einer westindischen Sklavin“.

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