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Komm näher. Thomas Florschuetz und die Installation „Nächste“.

© Doris Spiekermann-Klaas

Fotoinstallation von Thomas Florschuetz: Jesus hinterm Karohemd

Bilder überlagern sich: Thomas Florschuetz ist Fotograf. Bis Ostern verhüllt er nun einen Altar in der Paul-Gerhardt-Kirche in Prenzlauer Berg.

Hungertuch sagte man früher. Fastenvelum. Schmachtlappen. Im Mittelalter fing es an: In den Kirchen verhüllte man während der Passionszeit den Altar, als Symbol für das Fasten und die Buße. Lasst ein Hungertuch herab, „daz die syndige leut die götz nit ansehen“, fordert eine alte Schrift.

1000 Jahre später, die Paul-Gerhardt-Kirche steht als Backsteinbau inmitten einer Häuserzeile in Prenzlauer Berg. Thomas Florschuetz, einer der bedeutendsten Fotokünstler der Gegenwart, hat sich im Mittelgang zwischen den Bankreihen positioniert und betrachtet aus kritischer Distanz den von ihm gestalteten „Schmachtlappen". Seit fünf Jahren lädt die Kirchengemeinde zeitgenössische Künstler zur Altarverhüllung ein. Katharina Grosse, berühmt für ihre raumgreifenden Malereien, hat eine ausladende lilafarbene Stoffwolke drapiert, Venedig-Biennalen- Teilnehmer Felix Droese stellte einen Holzschnitt mit dem provokanten Ausruf „Kein Zutritt“ vor den Altar. Florschuetz ist dagegen der Mann für den zweiten Blick. Er hat eine sechs Meter hohe Leinwand vor den Altar gehängt, darauf sind sieben männliche Rücken in gemusterten Hemden zu sehen. Karos, Längsstreifen, Querstreifen. Florschuetz ist zufrieden. Sie können kommen, die sündigen Leut’ vom Prenzlauer Berg.

In Indien fiel ihm auf, wie nah der Nächste ist

Florschuetz wird oft in einem Atemzug mit Andreas Gursky oder Thomas Struth genannt, zur Düsseldorfer Fotoschule gehört er trotzdem nicht. Er ist Autodidakt. 1957 in Zwickau geboren, begann er als junger Mann, seine Freunde zu fotografieren, dann schoss er Akte von sich selbst, er zerlegte seinen Körper in fotografische Fragmente und setzte die Extremitäten auf abstruse Weise wieder zusammen. Diese Körpermorphologien markieren den Anfang seiner Karriere. In den Rücken-Tableaus spürt man deren Echo. „Nächste“ lautet der Titel der Installation. „Während eines Besuchs in Indien fiel mir auf, wie nah der Nächste ist“. Florschuetz fotografierte im Gedränge der Straßen von Bangalore. Er sucht nach Reduktion. Ein Torso, mehr braucht es nicht. Die Gedanken machen den Rest.

Die Paul-Gerhardt-Kirche in der Wisbyer Straße.
Die Paul-Gerhardt-Kirche in der Wisbyer Straße.

© Doris Spiekermann-Klaas

„Ich möchte mich in der Passionszeit nicht vor dem Bild des Auferstandenen zum Leiden und Sterben äußern“, sagt Gemeindepfarrerin Uta Fey. Durch die Altarverhüllung wird das Leiden präsent. Die Augen fasten, nur der Geist bekommt Nahrung. Der Pfarrerin fällt zu den Rückenbildern vieles ein, Inspiration für ihre Predigten bis Ostern. Wer ist unser Nächster und wie gehen wir mit ihm um? Wie tolerant sind wir gegenüber Menschen mit anderer Religion, anderem Aussehen? Diese Frage mussten sich die Ratsmitglieder der Paul-Gerhardt-Gemeinde stellen, als es 2014 darum ging, die Flüchtlinge, die sich in der Kreuzberger Thomas-Kirche verschanzt hatten, über den Winter zu bringen. Die Gemeinde musste entscheiden, ob sie einige der Flüchtlinge in ihren Räumen wohnen lässt. Dass man sich am Ende dagegen aussprach, macht die Sache nicht leichter. Abgewandte Rücken. Last auf den Schultern.

Er würde nie eine Ausstellung in einer Kirche machen, sagt Florschuetz. „Dafür gibt es Galerien.“ Seine neutrale Bildsprache entzieht sich bewusst dem geistigen Überbau der Kirche. Die Altarverhüllung sei eine Überlagerung eines bestehenden Bildes, und als solche interessant.

Ihn interessiert der Blick auf den Blick

Die eigenwilligen Fototableaus des Zwickauers stießen schon zu DDR-Zeiten auf großes Interesse im Westen. Nach der Wende machte er sich schnell einen Namen im internationalen Ausstellungsbetrieb, er zeigt seine Serien in den USA, in Indien, Brasilien, Deutschland. Die Berlinische Galerie, der Hamburger Bahnhof und die Neue Nationalgalerie beherbergen seine Fotografien. Florschuetz’ Bilder erkennt man sofort. Das Fragmentarische und das Serielle machen sie unverwechselbar. „Ich zeige einen begrenzten Ausschnitt der Realität, das ähnelt der Wahrnehmung im Alltag“, sagt der Künstler. Kurz vor der Demontage fotografierte er im entkernten Palast der Republik durch die Fenster, das Neue Museum zeigt er im Stadium zwischen alt und neu. Vor seiner Linse wird die brüchige Architektur auf abstrakte Formen reduziert. Auf dieselbe Weise fotografierte er Kampfjets, Orchideen, Bananen. „Es geht nicht um die Inhalte“, sagt Florschuetz. Was interessiert, ist der Blick auf den Blick. Die zweite Ebene. Die Membran zwischen dem Außen und dem Innen. Deshalb fotografiert er immer wieder Fenster, Vorhänge – und das Hemd.

„Das Hemd ist Hülle für den Körper, Trennwand zwischen der rationalen und der geistigen Welt“, sagt Eugen Blume, Leiter des Museums Hamburger Bahnhof am Eröffnungsabend in seiner Laudatio. Die Kirche ist halb gefüllt. Der Chor singt „Kommt her zu mir, spricht unser Gott.“ Für einige ist es schmerzlich, diese abgewandten Rücken anzuschauen. „Jeder sieht das, was er sehen will“, sagt Florschuetz. Er will gar keine Geschichten erzählen.

Das eigentliche Altarbild in der Paul- Gerhardt-Kirche zeigt Jesus in einem dramatischen, weißen Gewand, die Augen zum Himmel gehoben, über dem Kopf leuchtet ein Heiligenschein. Der auferstandene Christus als Heilsversprechen, so hat es der Maler Gerhard Noack 1910 gesehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man verklärte Bilder wie dieses aus den Kirchen entfernen.

„Was soll heute auf unseren Altären hängen“, schallt es am Eröffnungsabend von der Kanzel. Alle schauen auf die sieben Rücken, die Torsi, die Muster, die Menschen hinterm Hemd – die Gedanken fließen. Eine Antwort bleibt aus.

Paul-Gerhardt-Kirche, Wisbyer Str. 7, Prenzlauer Berg, bis 5. April, Mo–Fr 15–17 Uhr und zu den Gottesdiensten

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