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Nachdenken über die Zeit: Joanna Newsom.

© Annabel Mehran

Joanna Newsoms Album "Divers": Die Tiefseetaucherin

Kalifornisches Hippietum, rauschhafte Pracht: Joanna Newsom und ihr schillerndes Kunstpop-Album „Divers“.

Endlich. Endlich etwas Neues von Joanna Newsom. Fünf lange Jahre hat sie gebraucht für die Verfertigung von Album Nummer vier, allein an einem der elf neuen Songs soll sie ein ganzes Jahr gearbeitet haben. Bei den Aufnahmen zu „Divers“ dirigierte sie ganze Kohorten von namhaften Arrangeuren, Toningenieuren und Ko-Musikern, darunter das Prager Sinfonieorchester. Sie selbst spielte 16 Instrumente, darunter Mellotron, Celesta und Klavichord. Aber auch ihr Markenzeichen, die Harfe, bekommt wieder eine – wenn auch zurückgenommene – Rolle. Produziert haben Noah Georgeson (Spezialist für Newsom und den Weird-Folker Devendra Banhart) und Steve Albini (Spezialist für dicke Fische der Rockgeschichte: PJ Harvey, Nirvana, Stooges).

Aber, meine Güte, was soll man auch erwarten. Es ist schließlich Joanna Newsom, die anspruchsvollste, perfektionistischste und beste Künstlerin, die heute an der Schnittstelle zwischen Pop und Klassik, Avantgarde und Traditional, Kunstlied und Hillbilly zu finden ist.

Geboren 1982 in der nordkalifornischen Kleinstadt Nevada City, die Eltern Ärzte, die Kindheit behütet und kunstaffin, es herrscht Fernsehverbot zu Hause, die Waldorfschülerin lernt stattdessen lange Gedichte auswendig, bekommt Klavier- und Harfenunterricht. Mit 18 zeltet sie drei Tage in der Natur, hungert, wartet aufs Erscheinen ihres Totemtiers. Es kommen: drei zahme weiße Wölfe, die ihr das Gesicht ablecken. Tolle Geschichte, in deren Folge ihr wohl nichts anderes übrig bleibt, als Komposition und Kreatives Schreiben am renommierten Mills College zu studieren. Sie bricht das Studium aber ab und konzentriert sich seit 2002 voll auf ihre Musik.

Unendliche Melodien, liebeskranke Balladen, flüchtige Schönheit

2004 erscheint das Debütalbum „The Milk-Eyed Mender“. Die ausschließlich mit Klavier und Harfe begleiteten Appalachen-Folk, afrikanische Polyrhythmik, Renaissancemadrigale und kalifornisches Singer-Songwritertum beschwörenden Lieder bringen ihr sofort viel Aufmerksamkeit. Die noch steigt, als 2006 mit „Ys“ ein Nachfolge-Œuvre herauskommt, mit nur fünf Stücken, allesamt zwischen 7 und 17 Minuten lang, ein unerhörtes Fest der unendlichen Melodie, der liebeskranken Ballade, der flüchtigen Schönheit.

Und Joanna Newsom sattelt drauf, bringt 2010 „Have One On Me“ heraus, ein Dreifach-Album von mehr als zwei Stunden Laufzeit, mit 18 Stücken, von denen maximal zwei nicht schlichtweg betörend sind. Der ganze große Rest ist ein mit federleichter Tiefgründigkeit erbrachter Beweis überbordender Originalität: Die damals 28-Jährige besingt in ihren ewiglangen, vielschichtigen Texten Liebe und Herzschmerz, Abschied und Neuanfang, Räuberbräute und Königskurtisanen, alles mit dieser Stimme, ihrer Stimme, die seit je die Geister scheidet: Manche winden sich ob des kindlich-naiven Gekiekses, andere knien nieder vor dem Facettenreichtum dieser Stimme, die mal mit Druckluft aus dem Hals gequetscht, mal mit divenhaftem Vibrato aus dem Koloraturkopf geangelt zu sein scheint, das Timbre schmelzend, schneidend, brechend – aber immer absolut unverkennbar.

Seit 2010 ist Joanna Newsom ausgiebig auf Tour gewesen, hat für Paul Thomas Andersons „Inherent Vice“ und für die TV-Serie „Portlandia“ vor der Kamera gestanden, geheiratet und in L.A. eine Villa gekauft, deren früherer Mieter Charlie Chaplin war – und dann die Arbeit an „Divers“ vorangetrieben. Was, wie gesagt, gedauert hat: Sie weiß, dass sie ihren anspruchsvollen, in Blogs geradezu kriminologisch vorgehenden Fans semiotisch zu entschlüsselnde Komplexität schuldig ist.

So folkig, dass man meinen könnte, Joanna Newsom habe es auf einen Country Grammy abgesehen

Auf dem Cover zeigt „Divers“ eine Fotografie des Künstlers Kim Keever: Bunte Wildblumen vor apricotfarbenen Wolken. Keever baut in Aquarien Landschaften nach, setzt sie unter Wasser, kippt Farbe hinein und hat dann wenige Sekunden Zeit, die Farbwirbel als Wolken oder Tropfsteine zu fotografieren, bis sie das Wasser vollständig eintrüben. Es entsteht eine Welt, die vielleicht prä-human, vielleicht post-apokalyptisch ist, auf jeden Fall aber voller dem Tode geweihter Schönheit. Gut gewählt, dieses Cover. Opulente, fast etwas selbstironisch in Richtung Kitsch steuernde Grandezza als Resultat großer Virtuosität, harten Feilens an Details und Massen von verarbeitetem Material. Das Album ist in einem noch nicht gekannten Maß üppig ausgefallen. Die Dichte der Texte und der soundtechnische Sättigungsgrad setzen neue Maßstäbe im Newsom-Kosmos. Sogar eine verzerrte Gitarre, eine Rhodes-Synthie und dickbauchig aufgenommene Toms sind diesmal dabei – neben all den 1001 anderen Instrumenten. Dabei ist das Songwriting für Newsom-Kategorien so poppig, so folkig (mal eher irisch, meist ur-amerikanisch), fast schon mitsingkompatibel, dass man manchmal meinen könnte, sie habe es auf einen Country Grammy abgesehen. Aber nur fast.

Thematisch kreisen die Lieder auf „Divers“ um das Thema Zeit und Vergänglichkeit, diese ständige Übergangshaftigkeit der Welt, der Joanna Newsom versucht, etwas Gültiges, Bleibendes abzutrotzen – und sei es am Schluss eben die Aussage „panta rhei“. Mit virtuos gereimten Worten legt sie verschüttete Spuren und Schichten frei, geht gegen die furchtbare Macht der So-ist-es-Illusion vor: Da wird Sapokanikan besungen, die Siedlung des Lenape Tribes, aus der New Yorks Greenwich Village wurde, da erklingt eine Kriegsballade über eine die Geister der Vergangenheit bekämpfende Sci-Fi-Infanterie, da warten Frauen auf ertrunkene Perlenfischer, über alle Zeiten hinweg. Puh.

Eine aufschlussreiche Einführung in diese Welt vermittelt das Video zur ersten Single „Sapokanikan“, in dem Joanna Newsom durch New York springt und wandert, und die Musik als Mischwesen aus Ragtime, Walzer, Stubenmusik und Kunstlied mit ihr dahinfließt: Der Fatalismus des „Alles wird einmal gewesen sein“ wird besiegt von einem beglückend lebendigen Vorwärts-Drive. Oder ganz zum Schluss, bei „Time, As A Symptom“: Da entspinnt sich aus dem Gurren einer Taube, einer nostalgischen Kindheitserinnerung, das ganze Lied, das Gurren wird eingeflochten in die Melodielinie, aus der Verzweiflung über das ewige Verstreichen der Zeit entwickelt sich eine rauschhafte Pracht. „Transcend!“, beschwört Newsom ihre neue Weltformel und schwingt sich auf zur kakophonen Feier des Lebendig-Seins. Das ist kalifornisches Hippietum, Version 4.0. Ein bisschen strebermäßig vielleicht. Aber trotzdem ganz groß. Wieder mal.

„Divers“ erscheint am 23. 10. bei Drag City. Konzert: 5. 11., 20 Uhr Admiralspalast

Kirsten Riesselmann

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