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Licht der Loire. Landschaft bei Angers, unweit von Julien Gracqs Wohnort Saint-Florent-le-Vieil.

© mauritius/Photononstop/Emilie Chaix

Julien Gracq und "Das Abendreich": Die Nacktheit freier Tiere

Eine prophetische Heimsuchung: Aus dem Nachlass erscheint jetzt Julien Gracqs magischer Text „Das Abendreich“.

Es ist eines, eine Landschaft im Gehen wahrzunehmen, und etwas anderes, von ihr zu schreiben. Was geschieht, wenn sie unter dem Blick des Dichters zur Schrift wird? Was geht über die bloße Abbildung einer Gegend hinaus und verwandelt sie ins buchstäblich Imaginäre, vielleicht sogar Phantasmagorische oder Hyperreale, jedenfalls in etwas, das nur die Schrift dem Raum zu entlocken vermag?

Texte wie Goethes „Granit“, Stifters „Nachsommer“, Robert Walsers „Spaziergang“ oder Handkes „Langsame Heimkehr“ gehören in diesen Kanon geschriebener Landschaft. In Frankreich ist Julien Gracq (bürgerlich Louis Poirier, 1910 – 2007) die Instanz schlechthin fürs Geopoetische. Seine Darstellung der Kalk-Hochebenen der Causses, in „Der große Weg“, seinem „Tagebuch eines Wanderers“. Oder die Gedankengänge, die er seiner Internatszeit in Nantes widmet, wie er sie in „Die Form einer Stadt“ festgehalten hat, sind Lehrstücke einer die Außenwelt minutiös und zugleich imaginativ kartografierenden Prosa.

Der in Frankreich gern in Analogie zu Ernst Jünger als „Jahrhundertautor“ Gefeierte war aber auch ein Meister verstörend schöner traumartiger Landschaften. Dafür steht seine Erzählung vom Untergang einer vage an Venedig erinnernden Wasserwelt, „Das Ufer der Syrten“, für die Gracq den – zurückgewiesenen – Prix Goncourt erhielt. Und dafür steht als dessen Pendant, ebenfalls in den 1950er Jahren entstanden, das aus dem Nachlass veröffentlichte Romanfragment „Das Abendreich“, das Gracqs Übersetzer Dieter Hornig jetzt auf Deutsch vorlegt.

Initiationserlebnis "Marmorklippen"

In „Die Form einer Stadt“ berichtete Gracq vom Initiationserlebnis, das ihm Jüngers „Marmorklippen“ gleich nach dem Erscheinen 1939 beschert hatten. Wie bei Jünger hat man es im „Abendreich“ mit einer archaischen Endzeitlandschaft zu tun, in der sich eine Gruppe junger Männer aufmacht, hinter die befestigten Grenzen eines von barbarischen Mächten bedrohten alten Reichs zu schauen. Das Fragment erzählt von ihrem Streifzug durch eine gleichermaßen prä- wie postapokalyptische Gegend, durch Wälder, Meer, Wüste, Gletscher und die letzten Wochen in einer von den Barbaren belagerten, abgeschnittenen Festungsmetropole.

Anders als den „Marmorklippen“ fehlt dem „Abendreich“ jedoch jede unmittelbar übertragbare Verschlüsselung, Symbolik und Metaphysik. Es ist eine Welt, die trotz vieler Anspielungen keine Entsprechung mehr im geopolitischen Raum hat, sondern mit ihren Suggestionen direkt unter die Haut fährt – fremd und irgendwie bekannt zugleich.

Gracqs Prosa hat die Qualität einer prophetischen Heimsuchung: Seinen Protagonisten sind allem Tatendrang zum Trotz die Hände gebunden, so dass sie zum Hinstarren verdammt und ausgeliefert bleiben an eine Landschaft, die mit den namenlos aus ihr sprießenden Belagerern in ihrer seismischen Bewegung zum eigentlichen Protagonisten wird.

Mit Gracqs Sound geht es einem genauso. „Es ist eine kahle und gekräuselte Fläche, die sich ohne einen Baum und ohne ein Haus bis zum Fuß der Berge erstreckt – zur Gänze bedeckt von einer Art gleichmäßigem und blankgebürstetem Fell unter der schrägen Sonne, das jedoch, man ahnt es rasch, rau und hart ist wie eine Bürste, eine Landschaft ohne Alter und ohne Jahreszeit, die nicht die aufgeschürfte Dürre der Wüste besitzt, sondern nur eine Art ernste Schlichtheit – die Nacktheit eines freien Tiers, bei dem jeder Muskel schöne seidige Schatten spielen lässt, wo das Antlitz der Erde das Vorüberziehen der Wolken genauso aufsaugt wie das Fell das Streicheln der Hand.“ Einmal in diesem Sog gefangen, ist man ihm verfallen, und das will etwas heißen für eine Übertragung aus einem Französisch, das Gracq, so Hornig im Nachwort, zu einem unübersetzbaren Idiom hatte verwandeln wollen.

Julien Gracq: Das Abendreich. Roman. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig. Droschl Verlag, Graz/Wien 2017. 224 Seiten, 23 €.

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