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SCHREIB Waren: Kaugummi- Diplomatie

Politik zählt zu den Vokabeln, die durch Überbestimmung unbestimmt geworden sind. Und ohne die trotzdem keine Gesellschaft auskommt, weil schon der Streit um das, was denn Politik sei, eminent politisch ist.

Politik zählt zu den Vokabeln, die durch Überbestimmung unbestimmt geworden sind. Und ohne die trotzdem keine Gesellschaft auskommt, weil schon der Streit um das, was denn Politik sei, eminent politisch ist. Von daher gleicht Politik einem Kaugummi: Beide sind höchst dehnbar, und mit beiden lässt sich Politik machen – oder ließ sich zumindest vorübergehend nach 1945, als in der amerikanischen Besatzungszone und in der frühen Bundesrepublik das oder der Kaugummi zum Symbol einer anderen Politik wurde, die mit der bis dato gekannten autoritativen und totalitären brach. Wolfgang Koeppen hat davon in seinem Roman „Tauben im Gras“ erzählt.

Von alldem ahnte Heinrich von Kleist noch nichts – und hat sich in seinem Werk dennoch ausführlich mit Politik beschäftigt. Kleist und die Politik lautet denn auch das Thema der Jahrestagung der Kleist-Gesellschaft. Sie findet Freitag ab 9.30 und Sonnabend ab 9 Uhr im Märkischen Museum (Am Köllnischen Park 5) statt. Mit Vortragstiteln wie „Anti-Diplomatie. Militärische Führung bei Kleist“ oder „Recht als Krieg. Aporien legalistischer Herrschaft bei Heinrich von Kleist“ geht es um Kleists Zeugenschaft von den Formationen des Politischen um 1800, aber auch um das Verhältnis zwischen Literatur und Politik. Das wird etwa anhand Kleists journalistisch-politischer Tätigkeit beleuchtet. Sonnabendnachmittag wartet ein sogenannter Kleist-Salon mit einem Streifzug durch Kleist-Motive auf Postkarten oder einem Kleist-Quiz auf (Programm: www.heinrich-von-kleist.org/kleist-gesellschaft). Und am Sonntag wird um 11 Uhr im Rahmen einer Matinee im Berliner Ensemble der Kleist-Preis an den Schriftsteller und Strafverteidiger Ferdinand von Schirach verliehen.

In der SBZ beziehungsweise der DDR wiederum gab es lange Zeit kein Kaugummi, jedenfalls nicht offiziell, dafür aber glasklare Definitionen von Politik. Als dann Anfang der Siebziger die staatseigene Marke „Jamboree“ in die Läden kam, war Uwe Johnson längst weg. Und er war bekanntlich nicht der Einzige: Die Gruppe Girrmann etwa half nach dem Mauerbau annähernd 1000 Menschen, die DDR zu verlassen. Mit zweien ihrer Mitglieder hat Uwe Johnson mehrstündige Gespräche geführt, als Vorbereitung für ein 1963 in Angriff genommenes aber nie realisiertes Buchprojekt. Johnson hatte behauptet, dass diese Gespräche verloren gegangen seien, was indes nicht richtig war. Es sind Transkriptionen erhalten, die in diesem Sommer erstmals publiziert wurden. Sie beleuchten erstmals die Tätigkeit von Fluchthelfern en détail aus deren Perspektive. Am heutigen Dienstag um 19 Uhr stellt der Herausgeber Burkhardt Veigel den Band in der Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Kommunismus/Stalinismus (Nikolaikirchplatz 5–7) vor. Auch das dürfte eine nicht ganz unumstrittene, aber eminent politische Angelegenheit sein.

Thomas Wegmann

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