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Beschwingt. Kirchner malte die „Sechs Tänzerinnen“ 1911 (früher Sammlung Ludwig und Rosy Fischer, Frankfurt/M.).

© Virginia Museum of Fine Arts (Richmond), Katherine Wetzel

Ernst Ludwig Kirchner in New York: Kein anderer hat diese Farben

Der „Farbenmensch“ begeisterte Sammler in den USA: Eine Schau zum bedeutendsten deutschen Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner in der Neuen Galerie New York.

Expressionismus steht zuallererst für eines: die Farbe. Für bunte, laute Farbe. Die nicht einen Gegenstand angenehm koloriert, sondern Ausdruck ist für eine Weltwahrnehmung von radikaler Subjektivität und Augenblickshaftigkeit.

Für kaum einen Künstler des Expressionismus trifft das derart zu wie für Ernst Ludwig Kirchner. An seinem Werk ist der Maßstab zu gewinnen, was Expressionismus ist; abgesehen von dem so ganz anderen, aber nicht minder ausdrucksstarken Werk von Emil Nolde (wie immer das Urteil über seine politischen Einstellungen ausfallen mag).

Kirchner als Mitbegründer – und später Mitzerstörer – der „Künstlergemeinschaft Brücke“ unterschrieb, was das um Mitglieder werbende Manifest der Gruppe im Jahr 1906 verkündete: „Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt.“

„Unmittelbar und unverfälscht“ – das führt bei Kirchner freilich auf eine falsche Fährte. Gewiss, als Zeichner schuf er die „Viertelstundenakte“ in seinem Atelier, das eher einer Höhle glich, die sprichwörtlichen Laster einschlossen.

Aber als Maler ging er bald sehr zielgerichtet vor und eben nicht „unmittelbar“. Seine reifen Gemälde sind sorgfältig komponiert. Kirchner war Autodidakt, aber alles andere als ein Dilettant. Er war der bedeutendste deutsche Expressionist.

Eine chronologische Werkübersicht

Davon zeugt eine nur räumlich kleine, aber diese Räume geradezu sprengende Ausstellung – fast schon eine Retrospektive –, die die Neue Galerie in New York veranstaltet. Das mit deutschem Namen versehene Privatmuseum des Großsammlers Ronald S. Lauder in der Upper East Side zeigt seine Ausstellung gleichzeitig mit der Eröffnungspräsentation des Museum of Modern Art.

Das ist sicherlich Zufall, aber nicht ohne Hintersinn: Denn während des MoMA der herkömmlichen Kunstgeschichte abschwört und sie durch assoziative Vermischungen anreichert, zeigt die Neue Galerie eine klassische, chronologische Werkübersicht.

[Neue Galerie, New York, 1048 Fifth Avenue, bis 13. Januar. Vorzüglicher Katalog 50 Dollar. – Mehr unter www.neuegalerie.org]

Nun hat es im Laufe der Jahrzehnte etliche Kirchner-Ausstellungen gegeben; erinnert sei an die große und unübertroffene Retrospektive, die die Berliner Neue Nationalgalerie 1980 zum 100. Geburtstag des Künstlers zeigen konnte. Diese hier in der Neuen Galerie hat ihren Charme darin, dass sie ganz überwiegend Werke aus amerikanischem Besitz zeigt.

Das liegt einerseits geografisch nahe; hat andererseits für den europäischen Besucher den Vorteil, etliche Werke sehen zu können, die ansonsten für ihn kaum oder gar nicht zugänglich sind. Die Vollständigkeit der Ausstellung leidet darunter nicht im Mindesten. Es ist erstaunlich zu sehen, wie das Œuvre Kirchners, dieses nachgerade teutonischen Antipoden einer französischen Moderne, bei amerikanischen Sammlern Fuß gefasst hat.

Die Dresdner Zeit zeigt einen suchenden Kunstnovizen

In der Neuen Galerie, in der lediglich drei größere Ausstellungsräume zur Verfügung stehen und die Besucher lange Wartezeiten auf der Straße in Kauf nehmen – gegen Aufpreis gibt es Zeitfenstertickets im Internet –, ist die Chronologie auf die drei Stationen Dresden/Berlin/Davos eingedampft, mit einem Nebenraum für die Zeit des Ersten Weltkriegs.

Ein Stockwerk darunter findet die Grafik Platz – oder eher nicht, denn Kirchners grafisches Œuvre ist so reich und vielfältig, dass es eines ganzen Museums bedarf, um es in angemessener Weise vorstellen zu können.

Der Dresden-Raum zeigt einen suchenden Kunstnovizen, der sich an den damaligen Vorkämpfern der Moderne orientiert, an Munch und van Gogh. Mehrere Cabaret- und Tanzszenen machen darauf aufmerksam, dass Kirchner die gerade erst eingeführten Farbeffekte elektrischer Bühnenbeleuchtung sehr genau wahrgenommen und als Insignien seiner Zeit verstanden hat. Bei den „Sechs Tänzerinnen“ von 1911 verschmelzen die Haut der Körper und die knappen Ballettkleidchen zu einem einheitlichen Rosa.

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Eines der bedeutendsten Dresden-Bilder, „Die Straße“ von 1908, befindet sich ohnehin in New York, allerdings in der Eröffnungsausstellung des renovierten Museum of Modern Art. Quasi zum Ausgleich hat das MoMA seine „Berliner Straße“ von 1913 hergeliehen, die nun neben jenem kurz darauf entstandenen, beinahe formatgleichen Gemälde des nämlichen Sujets hängt, das früher dem Brücke-Museum gehört hat.

Es wurde bekanntlich 2006 in einer umstrittenen Aktion an die Erben des früheren Eigentümers herausgegeben und unmittelbar danach auf einer Auktion von Ronald Lauder für 38 Millionen Dollar erworben.

Der Erste Weltkrieg trieb Kirchner in den Wahnsinn

Einmal mehr ist festzustellen, wie ausgereift die Kompositionen gerade des Straßen-Themas sind, so gern man auch die bukolischen Szenen des Fehmarn-Aufenthalts von 1913 sieht, wie das Selbstportrait mit Erna (Schilling – seiner Lebensgefährtin). Der Blick aus dem Steglitzer Atelierfenster auf die Gleise der Wannseebahn von 1914 verweist bereits auf die Kriegsjahre: Auf diesen Schienen fuhren die Militärzüge zur Westfront.

Der Krieg trieb Kirchner buchstäblich in den Wahnsinn. Das „Selbstportrait als Soldat“ von 1915 mit dem erhobenen, blutigen rechten Armstumpf und der nackten Geliebten im Hintergrund – oder nur ein Gemälde? – ist ein verstörendes Zeugnis Kirchners Gemütsverfassung, die ihn bald in Sanatorien im Taunus und später in der Schweiz brachte.

Kirchner, zuvor dem giftgrünen Modegetränk Absinth zugetan, wird bald – und lebenslang – medikamentenabhängig. Der Umzug nach Davos, der vollständige Bruch mit der Großstadt und die Flucht in die Bergwelt, führt zu einem labilen Gleichgewicht, dem sich großartige Werke wie das „Tinzenhorn“ von 1919/20 oder die „Berglandschaft vom Clavadel“ von 1925/25 verdanken, aber auch Dekoratives wie das „Weiße Haus im Sertigtal“ von 1926.

Kirchner malt nun flächig, und so werden zu dieser Zeit Bildteppiche nach seinen Entwürfen gewebt, so der „Almauftrieb in den Alpen“.

Eine „schockierende Farbpalette“

Die dichte Hängung konzentriert und verstärkt die Farben, die Kirchner in manchmal schreienden Kontrasten, zugleich aber auch delikaten Harmonien aufträgt. Der Kritiker der „New York Times“ betonte die „schockierende Farbpalette“, verwirft jedoch jedwede Psychologisierung hinsichtlich der Drogenprobleme des Künstlers.

Dem ist nur zuzustimmen. Kirchner befand sich psychisch stets an einer Grenzlinie. Der Suizid 1938 aus Angst vor einem herbeifantasierten Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Schweiz unterstreicht dies auf tragische Weise.

Als Künstler aber wusste Kirchner genau, was er tat, scheinbar ungetrübt von allem Drogen- und Medikamentenkonsum. Sich selbst bezeichnete er 1918 im Davoser Skizzenbuch als „Farbenmensch“, und 1931 schrieb er geradezu triumphierend: „Kein anderer hat diese Farben“ – Farben, die er mal leuchtend, mal lauernd auf die Leinwand warf und die doch die gesehene Realität abformen.

Kirchner nahm die Welt und malte sie als Spiegel und Spielball seines inneren Erlebens. Ihm kommt man in dieser exquisiten Ausstellung ganz nahe.

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