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Novemberkind

© promo

Christian Schwochows "Novemberkind“: Wissen ist Ohnmacht

Christian Schwochows fulminantes Debüt "Novemberkind“ ist ein Drama über die "schmerzhafte Muttersuche". Der Film handelt aber auch von einer Generation, die nie ganz Ost war und nie ganz West sein wird.

Jede Zeit schafft sich die Ämter, die zu ihr passen – eine Professur für kreatives Schreiben etwa. Dabei muss sich wohl jeder entscheiden: entweder Professor oder „kreativ“ schreiben. Dem Schauspieler Ulrich Matthes hätten wir natürlich auch einen herkömmlichen Literaturprofessor geglaubt, nur würde ein herkömmlicher Literaturprofessor aus Konstanz am Bodensee wohl kaum nach Malchow am Malchiner See fahren, bloß um ein Mädchen zu suchen.

Denn er weiß etwas, was eigentlich dieses Nicht-mehr-Kind auch wissen sollte: wer seine Mutter war. Der Kreativprofessor hat gerade die seltsame Erfahrung gemacht, dass zwar die Literatur unendlich ist, er selbst dagegen auf irritierende Weise nicht. Und bevor es wirklich soweit ist, würde Robert doch gern einmal kreativ schreiben. Also besser gleich und am liebsten über die junge Frau aus dem Osten, die Anfang der Achtziger einmal in seinem Kurs saß, um dann sehr abrupt wegzulaufen. Andere Kursteilnehmer hatten ihr mit aller Bestimmtheit der Nichtbetroffenen erklärt, was sie selbst längst wusste, aber noch vor sich geheim hielt – dass man aus eigenem Versagen nicht Literatur machen soll. Dass man nirgends hingeht ohne sein Kind, schon gar nicht in den Westen.

„Novemberkind“ von Christian Schwochow ist ein Debütfilm, ein sensibles Filmhochschul-Abschlusswerk voll untergründiger Hochspannungen. „Novemberkind“ hat dieses Jahr schon mehrere Preise gewonnen, den ersten beim renommierten Nachwuchsfilmfestival in Saarbrücken. Es ist ein Film über das Versagen, oder nein: über die Augenblicke im Leben, wo sich Weichen falsch stellen, und keiner macht das mehr rückgängig, am wenigsten man selber. Und das Schlimmste: Müsste man nicht immer wieder so handeln? Zugleich ist „Novemberkind“ ein Film darüber, wie Menschen einander verschonen könnten, wäre da nicht so eine schwer begründbare Bewusstseinspflicht.

Anna Maria Mühe macht „Novemberkind“ zum Ereignis. Sie spielt eine Doppelrolle: Inga und ihre Mutter Anna Anfang der achtziger Jahre, als sie so alt war wie ihre Tochter jetzt. Wie genau Anna Maria Mühe Gestus und Ton trifft, die diese Geschichte überhaupt erst erden können. Welch Lebenslust gibt sie diesem Malchiner Mädchen Inga, so weit weg von jeder Pose, die Jugendliche gern mit Jungsein verwechseln, wenn sie Fernsehen und Zeitschriften die Erziehungsberechtigung übertragen haben.

Ingas Erziehungsberechtigte sind ihre Großeltern, gespielt von dem erst in den letzten Jahren auf die Leinwand zurückgekehrten Hermann Beyer und Christine Schorn. Zwei Kleinweltbewohner. Wenige Szenen genügen, um zu wissen, dass das Mädchen Inga bei diesem nicht unschrulligen Paar eine Kindheit hatte, wie sie nicht vielen zuteil wird. Und wie sanft-bestimmt sie mit ihnen umgeht. Denn es ist nicht leicht, Großeltern zu erziehen. Aber es ist möglich.

Was Inga von klein auf wusste – ihre Mutter ist in der Ostsee ertrunken, der Vater unbekannt – mag für Dritte eine unbefriedigende Erklärung des Herkommens sein, aber nicht für den, der mit ihr groß wird. Der Professor sieht mit einem Blick, dass diesem Menschenkind nichts fehlt. Er ist gekommen, das zu ändern. Und er sieht noch etwas, das Erkennen steht groß in Matthes’ Gesicht: Dieses Mädchen hat das Gesicht seiner Mutter.

Im Grunde erzählt „Novemberkind“ auf seine leise zurückgenommene Art die älteste Geschichte der Welt, das Drama des Bewusstseins. Jedes Bewusstsein ist zuletzt unglückliches Bewusstsein. Und seltsam ist das schon: die in der Ostsee ertrunkene Mutter hat das Mecklenburger Kind nie beunruhigt, aber die Mutter, die ohne ihr Kind in den Westen geflüchtet ist und sich nie nach ihr erkundigt hat – die bringt sie um jede Selbstverständlichkeit der Welt, um das innerste Gleichgewicht. Und eben diesen Gleichgewichtsverlust will der Professor studieren, um ein Buch daraus zu machen, und bricht mit ihr auf in Richtung Konstanz. Elternsuche.

„Novemberkind“ – das Drehbuch schrieb der auf Rügen geborene Christian Schwochow mit seiner Mutter, der Dramaturgin und Journalistin Heide Schwochow – braucht diese gemeinsamen Stationen einer Nichtgemeinsamkeit, und doch bewegt sich der Film auf dramaturgisch höchst dünnem Eis. Der Professor weiß, was mit der Frau geschehen ist, die er kannte, warum also setzt er das Mädchen der Suche aus? Für sein Kreativ-Protokoll authentischer Situationen? Es bedarf schon der ganzen Eindringlichkeit eines Ulrich Matthes, um dieser Figur Halt zu geben. Und dann ahnt man sogar, dass er sich den starken Grund eines Buches, eines Projekts, vorspiegeln musste, denn keiner fährt einfach so von Konstanz nach Malchin, um einer völlig Unbekannten zu sagen, wer ihre Mutter war. Vor allem aber braucht es die Präzision, mit der sich Anna Maria Mühes Gesicht weit öffnen und ebenso schnell wieder verschließen kann.

„Novemberkind“ ist nicht zuletzt eine Vergewisserung des eigenen Herkommens der jetzt Dreißigjährigen, zu deren Kindheit die DDR gehörte wie eine Schimäre. Man ist nicht mehr ganz Ost, und wohl darum nie ganz West. Die Untersuchung einer höheren Heimatlosigkeit.

In den Kinos Capitol, Cinemaxx Potsdamer Platz, Delphi, Filmtheater am Friedrichshain, International, Kulturbrauerei und Yorck

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