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Adriana (Marion Cotillard) begleitet den Amerikaner Gil (Owen Wilson) auf seinen Streifzügen durch die Künstlerboheme vergangener Zeiten.

© Concorde

"Midnight in Paris": Vorwärts in die Zwanziger

Bekenntnis eines aufgeklärten Romantikers: Woody Allens lässt in seiner fabulöse Zeitreise "Midnight in Paris" die ganze Zwanziger-Jahre-Boheme auf einen Streich auftreten.

Dies ist ein antiamerikanischer Ich-liebe-Paris-Film. Normalerweise mögen die Amerikaner keine antiamerikanischen Ich-liebe-Paris-Filme, aber diesen mögen sie doch.

Der Stadtneurotiker lebt schon lange jenseits von New York und dreht seitdem Überall-ist-es-besser-als-zu-Hause-Filme, die spielen dann in Barcelona oder London, sind abgründig-böse, komisch, sentimental – und Allens Mitamerikanern waren sie schnurzpiepegal, vom Kassenstandpunkt aus betrachtet. Bei „Midnight in Paris“ ist das anders. Es ist der erfolgreichste Woody-Allen-Film in den USA seit „Hannah und ihre Schwestern“.

Bisher hat er knapp 50 Millionen Dollar eingespielt, und unter den vielen Zuschauern waren vielleicht sogar ein paar Anhänger der Tea-Party-Bewegung. Das wäre ein glatter Fall von Masochismus, denn bei Woody Allen braucht Owen Wilson einen Nebensatz, um diese verbal zu vernichten. Viel länger halten sich Liebende bei der Politik und anderen Unerfreulichkeiten gemeinhin nicht auf.

Außerdem neigen sie zu Hemmungslosigkeit. Allein wie das anfängt: Lauter Paris-Aufnahmen. Paris im Regen. Und noch mal Paris im Regen. Und noch mal. Allerdings braucht niemand einen Film über Paris im Regen machen, wenn er nicht der Meinung wäre, er zeige es nicht wie zum ersten Mal. Andererseits weiß niemand besser als der Regisseur, dass wir alle aus zweiter und dritter Hand leben, weshalb so eine große Sehnsucht nach den Ursprüngen in uns ist. Das ist das heimliche Hauptthema des Films. Und jeder Paris-Fotograf weiß sich umstellt von Legionen lebender und toter Paris-Fotografen. Haben die nicht ohnehin schon die besseren Paris-Bilder gemacht?

Nein, Allen hat da keinen falschen Ehrgeiz, er spielt nur ein wenig mit der Schönheit der Stadt in Gegenwart eines Tiefdruckgebiets. Und der Zuschauer ist ihm egal genug, um über die Länge eines zumutbaren Vorspanns selbst zu entscheiden. Auch muss er uns zu Verbündeten des erfolgreichen jungen Drehbuchautors Gil (Owen Wilson) machen, der seine Verlobte Inez (Rachel McAdams) zu einer Reise nach Paris überredet hat und ihr nun eröffnet, er könne sich auch vorstellen, immer hier zu leben. Weiterhin könne er sich vorstellen, nicht mehr Drehbuchautor, also verbaler Normteilzulieferer zu sein, sondern nur noch Bücher zu schreiben. Der erste Roman, den er niemandem zeigt, ist längst begonnen.

Inez’ Augen sind so blau und gleichgültig wie der Himmel über Kalifornien, und in ihnen steht überdeutlich, dass sie zwar für jeden Spaß zu haben sei (warum wäre sie sonst in Paris?), dass dieser jedoch Grenzen habe. Im Übrigen seien sie gleich mit ihren Eltern zum Essen verabredet, die sind geschäftlich in Paris.

Über Inez’ Eltern braucht man eigentlich nur zu wissen, dass sie so aussehen, sich so benehmen und so sprechen, wie sich Woody Allen wohl Sympathisanten der Tea-Party-Bewegung vorstellt. In der Verbindung zwischen Inez, die vor allem ein Kind wohlhabender Eltern ist, und Gil deuten sich also feine Bruchlinien an, die nicht zuletzt dadurch verstärkt werden, dass Gil lieber abends durch den Pariser Regen läuft als mit Inez und ihren Freunden tanzen zu gehen. Da geschieht es.

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Woody Allens neuer Film "Midnight in Paris" ist eine fabulöse Zeitreise und das Bekenntnis eines Romantikers.
Woody Allens neuer Film "Midnight in Paris" ist eine fabulöse Zeitreise und das Bekenntnis eines Romantikers.

© dpa

Gil hat sich verlaufen, als ein Partyauto vor ihm hält. Er soll ruhig mitkommen, raus aus dem Regen, wenn er sonst nichts vorhat. Der Wagen ist schon etwas älter, ein Zwanziger-Jahre-Renault. Und drin sitzen auch nicht Leute wie Inez und ihre Freunde, sondern etwa Scott Fitzgerald und seine exzentrische Frau Zelda, die zu einer Abendgesellschaft wollen, auf der nicht nur Josefine Baker tanzt.

Owen Wilson hat ein Gesicht, das im unbewegten Zustand etwas wie ungläubiges Erstaunen auszudrücken scheint. Und das ist sehr wichtig, denn gleich begegnet er auch noch Hemingway, und da kann man nicht immerzu „Oh, my god!“ rufen, obgleich die innere Stimme nichts anderes macht. Owen hat ein schönes Talent zur Darstellung stummer innerer Stimmen der Überwältigung bei gleichzeitiger Geistesgegenwart, die ihn etwa fragen lässt, ob Hemingway nicht seinen Roman lesen könnte. Hemingway bedauert: Schlechte Literatur mache ihn wütend, gute aber umso mehr, weil er die Vorstellung nicht ertrage, sie nicht selbst geschrieben zu haben. Doch Gertrude Stein (salonfüllend: Kathy Bates) liest bestimmt!

Jeder weiß, wie schwer ist es, Künstlerfilme zu drehen, einen Hemingway-Film etwa, einen Salvador-Dalí-Film oder einen Gertrude-Stein-Film. Immer sagt jemand, der Hauptdarsteller tauge für alle nur denkbaren Rollen, aber keinesfalls für einen Hemingway, Dalí oder eine Stein. Woody Allen fand die Lösung: Er lässt einfach alle auf einmal auftreten, die ganze Zwanziger-Jahre-Boheme von Paris auf einen Streich. Und plötzlich stimmt jede Figur. Wer wollte sich zwischen Adrien Brody als Salvador Dalí und Corey Stoll als Hemingway entscheiden?

Gil und seine neuen Freunde gehen natürlich miteinander um, und auch Gils gelegentliche Andeutung, dass er aus der Zukunft komme, irritiert niemanden, schließlich sind sie Surrealisten. Aber selbst die Surrealisten verstehen den Surrealismus nicht immer, und als Gil Luis Buñuel den Tipp für einen Film gibt – lauter Menschen, eingeschlossen in einem Raum, und da kommen sie nicht mehr raus! – fragt Buñuel nur immer wieder: Warum können die nicht raus?

Eine Erkundigung, so nebensächlich wie die Frage: Wie kommt Gil in die Vergangenheit? Die Zeitrechnung des Kinos ist eine andere, am ehesten gleicht sie wohl unserer eigenen Primärzeitrechnung. Zeit, die zählt, ist erfüllte Zeit. Und die haben Menschen fast immer in der Vergangenheit vermutet.

Dass das Beste noch vor uns liegt, ist eine vergleichsweise neue Idee, Fortschritt genannt, höchstens ein paar hundert Jahre alt, und inzwischen glauben ohnehin nicht mehr viele daran. Dass wir nur Überbleibsel einer ursprünglichen Vollkommenheit sind, ausgesetzt in einer falschen Zeit, ist hingegen ein viel plausibleres Bewusstsein. So sehnt sich Gil und mit ihm Woody Allen nach dem Paris der Zwanziger, ja „Midnight in Paris“ ist das Bekenntnis eines Romantikers.

Sollte man noch etwas zu Carla Bruni sagen? Als Jetztzeitangehörige und Museumsführerin erklärt sie Gil, seiner Verlobten und deren Freunden Rodins Denker, muss sich aber von Inez’ Bekannten immer wieder belehren lassen. Gil schweigt ohnehin meistens, wenn der etwas sagt. Soweit Allens Kommentar zur zeitgenössischen akademischen Kultur.

Aber natürlich ist Allen ein aufgeklärter Romantiker. Man erkennt das schon an der Art und Weise, wie Gil auf seinen Ausflügen eine Frau findet und sie wieder verliert. Die schöne Adriana (Marion Cotillard) hat Modigliani und Braque bereits hinter sich, und die Liebe zu Picasso wird eine Katastrophe. Ja, Adriana und Gil wären ein schönes Paar, sehnte sich die junge Frau nicht so unstillbar nach einer Zeit, als die Künstler und das Leben noch nicht so unsäglich trivial waren.

„Midnight in Paris“ läuft ab Donnerstag in den Kinos.

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