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Jamie Cullum spielt in seinem Konzert Jazzstandards, eigene Songs und auch R ’n’ B-Coverversionen.

© dpa

Konzertkritik: Unterm Regenschirm

Der Pianist und Sänger Jamie Cullum tritt im ausverkauften Berliner Tempodrom auf und zeigt, dass Großbritannien mehr zu bieten hat als beim Eurovision Song Contest zu sehen war. Beim Berliner Symphonie-Orchester nimmt Ingo Metzmacher Abschied.

POP

Unterm Regenschirm:

Jamie Cullum im Tempodrom

Warum bekommt Großbritannien eigentlich beim Eurovision Song Contest seit Jahren nichts auf die Reihe? Die Platzierungen der letzten fünf Jahre: 22., 19., 23., 25., 5. und dieses Jahr nicht unverdient Letzter. Vielleicht ignoriert die Popweltmacht den Wettbewerb aus britischer Höflichkeit. Denn würde sie einen ihrer zahllosen Stars ins Rennen schicken, hätten die anderen Länder wohl kaum eine Chance. Der Pianist und Sänger Jamie Cullum etwa wäre mit seinem neuen Song „Wheels“ sicher auf den vorderen Plätzen gelandet. Im ausverkauften Berliner Tempodrom funktionierte die treibende, an Coldplay erinnernde Power-Pop-Hymne jedenfalls fantastisch. Und ein extrem charmanter Performer ist Cullum ebenfalls. Sprühend vor Energie wirft sich der ehemalige Bar-Pianist stehend in die Tasten, stürmt mit dem Mikro zum Bühnenrand, macht Luftsprünge vom Konzertflügel und erzählt witzige Geschichtchen.

Mit großer Leichtigkeit surft der 30-Jährige von Jazzstandards über eigene Songs bis hin zu R ’n’ B-Coverversionen. Für Pharrell Williams’ „Frontin“ wird er sogar zum Beatboxer. Er loopt sich live drei Spuren und benutzt am Ende den ganzen Flügel als Percussioninstrument. Anschließend kommt seine vierköpfige, äußerst vielseitige Band zurück. Saxofonist Tom Richards spielt auch Keyboard, und Rory Simmons wechselt mitunter innerhalb eines Stücks von der Trompete an die Gitarre. Im Mittelpunkt stehen Stücke von Jamie Cullums Erfolgsalbum „Twentysomething“ (2004) und dem aktuellen Werk „The Pursuit“, das auf dem Cover einen explodierenden Flügel zeigt. Das Bild passt gut zu der Rockenergie, mit der der Musiker durch sein Programm tobt. Nicht umsonst ist Jimi Hendrix, dessen „The Wind Cries Mary“ er als Zugabe spielt, eines seiner Idole. Den Höhepunkt gibt es schon vorher: Cullum lässt seine Interpretation von „Singin’ in the Rain“ in Rihannas „Umbrella“ übergehen und bringt unverhofftes Drama in den Hit der Sängerin. Zwölf Punkte! Nadine Lange

KLASSIK

Überm Sternenzelt: Metzmacher mit dem DSO in der Philharmonie

Es ist nicht das erste Mal, dass beim Deutschen Symphonie-Orchester in seiner bewegten Geschichte eine chefdirigentenlose Zeit ansteht. Ingo Metzmacher nimmt Abschied. Sein vorletztes Berliner Konzert im Amt trägt den Stempel des eigenwilligen Programmplaners. Zum Unerhörten strebt die Kombination der Stücke. Einerseits das Gipfelwerk der Jupitersinfonie mit der aufgetürmten Architektur polyphonen Materials, dem gewaltigen Fugato zum Schluss, dazu ein weiterer Mozart. Es ist die Sinfonia concertante Es-Dur für Violine, Viola und Orchester, die in dieser Spielzeit Hochkonjunktur hat. Nach Lothar Zagrosek und Yuri Bashmet jeweils im Konzerthaus präsentiert Metzmacher mit dem DSO den edlen Solistenwettstreit in der Philharmonie, und – neben Nobuko Imai – heißt seine Trumpfkarte Daniel Hope. Zu dem sonoren Gesang der Bratschistin gesellt der Geiger seinen Zauberton, seine Phrasierungskunst, die auf ein beredtes Decrescendo baut. Ein liebenswürdig-romantischer Manierismus ist dabei und, wo die Musik dafür keinen Raum lässt, eine gewisse Beiläufigkeit.

Nun aber der Kontrast: „Orion“ für Orchester und „Zipangu“ für 13 Streicher von dem frankokanadischen Komponisten Claude Vivier. Für ihn könnte Platen gedichtet haben: „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben.“ 1948 geboren, kennt der Adoptivsohn einer streng katholischen Familie in Quebec seine Eltern nicht. Sein kurzes Leben führt über ein Priesterseminar, aus dem er wegen seiner Homosexualität entfernt wird, und Musikstudien bis zu Stockhausen in Köln. Auch Ligeti erkennt seine Begabung, prägend wird zudem eine Asienreise. „Glückselige Zerstörung“ erfährt er nicht nur im Komponieren, das ihm heilig ist wie der Glaube. 1983 wird er in seiner Pariser Wohnung erstochen aufgefunden.

Viviers Musik atmet Weite, Natur, Melodie, starkes Unisono im Rahmen studierter Avantgarde, japanische Klangfarben. Er komponiert Sehnsucht nach den Sternen, nach purer, „trauriger“ Schönheit, Flageolett, Ertrinken, Versinken breiter Klangbänder, plötzlich konzertierende Violine (glänzend: Bernhard Hartog): ein neuer Sound, von Metzmacher sensibel vermittelt. Solches Kennenlernen, zu dem der Dirigent zu überreden weiß, werden wir vermissen. Seinen Mozart beherrscht er dagegen eher wie ein Tanzmeister. Sybill Mahlke

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