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Das "Rolling Horse" von Jürgen Goertz auf der nördlichen Terrasse des Berliner Hauptbahnhofs am Europaplatz.

© Kai-Uwe Heinrich

Kunst vorm Bau (8 und Finale): Vergaloppiert in der Betonwüste

Die Skulptur „Rolling Horse“ löste vor elf Jahren Entsetzen aus. Inzwischen ist sie eines der kleineren Übel am Hauptbahnhof.

Gar nicht so einfach, dass Ding überhaupt komplett in den Blick zu bekommen. Es steht nicht frei, man muss ihm ziemlich nah auf die Pelle rücken. Direkt daneben hat der Burgerbrater Hans im Glück seine Tische und Bänke aufgestellt, direkt dahinter ragen seit kurzem hölzerne Wände in die Höhe. Für den unterirdischen Bahnhof der S21 wird eine frische Grube ausgehoben, weil frühere Arbeiten nicht nach Plan ausgeführt wurden. Nicht die erste Panne am Berliner Hauptbahnhof, diesem immer irgendwie etwas wackelig wirkenden Bau. Legendär sind die beiden losen Stahlträger, die Hurrikan Kyrill 2007, ein Jahr nach Eröffnung, durch die Luft gewirbelt hat. Allerdings: Ernsthafte Unfälle hat es am Hauptbahnhof noch nie gegeben. Nur einen ästhetischen: diese Skulptur. „Rolling Horse“ heißt sie, geschaffen von Jürgen Goertz, aufgestellt im Kyrill-Jahr 2007.

Nach einem kleinen Slalom ist eine befriedigende Beobachterposition erreicht. Im Sockel sollen Trümmerstücke des Lehrter Bahnhofs etwas bemüht eine Brücke zur Vergangenheit schlagen. Der Gaul selbst ist überraschend groß, besteht aus Edelstahl und Aluminium, der ein bisschen dümmlich dreinblickende Pferdekopf weckt Assoziationen an Gunther von Hagens’ Leichenplastinate. Doch hier geht es nicht um Menschen, sondern um Tiere, die haben es dem Künstler Jürgen Goertz besonders angetan. 1984 hat er mit seiner brutalen Hasen-Skulptur vor dem Nürnberger Dürerhaus eine durchaus intelligente Antwort auf Albrecht Dürers berühmte Hasenzeichnung gegeben.

Scharfe Kritik von Künstlern

Dem „Rolling Horse“ fehlt jene Kraft. Es zeichnet sich durch einen erschütternden Mangel an Mehrdeutigkeit aus. Das Werk ist eindimensional, klar und banal, es trägt seine Botschaft an der Oberfläche: Ein Pferd krümmt sich um eine Achse herum zum Rad. Da steckt Bewegung drin und Mobilität, alles dreht sich um die Verkehrsgeschichte, vom Pferdefuhrwerk zur Eisenbahn. Genial? Nun ja.

2007 erregte das durchaus noch die Gemüter. Damals schrieb der Berufsverband bildender Künstlerinnen und Künstler Berlin: „Dieses Gebilde, das Berlin kalt erwischt hat, ist von kaum zu überbietender Provinzialität. Weil es nicht im Vorgarten einer Privatperson steht, sondern an so zentraler Stelle mit internationaler Breitenwirkung, stellt sich die Frage, ob das so bleibt und wer die Misshandlung des öffentlichen Raums verantworten will." Der Beratungsausschuss Kunst des Senats, in dem die Akademie der Künste und die Kunsthochschule Weißensee vertreten sind, sekundierte und bemängelte, dass es kein transparentes Verfahren gegeben habe. Und das Büro für Kunst im öffentlichen Raum schlug einen nachträglichen Wettbewerb vor, an dem sich dann gerne auch Jürgen Goertz mit dem „Rolling Horse“ beteiligen könne.

Der damalige Bahnchef Mehdorn suchte die Skulptur aus

Man möchte wiehern, muss aber seufzen, wenn man das heute liest. Weil einfach nichts passiert ist. Die Jahre gingen ins Land, es gab keinen Wettbewerb, die Gravitationskraft des Faktischen setzte sich durch. Der Klepper steht da wie eh und je. Ein „Verfahren“ hat es damals übrigens durchaus gegeben, allerdings mit einem Schönheitsfehler: Es gab nur einen Sachverständigen, Hartmut Mehdorn, zu jener Zeit Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn. Der entschied, welche Kunst den neuen Bahnhof schmücken soll. Und griff auf ihm Vertrautes zurück. Seit 2000 ziert Jürgen Goertz’ Skulptur „S-Printing Horse“ den Vorplatz der Heidelberger Druckmaschinen AG. Deren Chef war damals: Hartmut Mehdorn. Beide Skulpturen ähneln sich sehr, worauf der Berliner Künstlerverband ebenfalls vergeblich hingewiesen hatte.

Dass Mehdorn, der sich nach seiner Zeit bei der Deutschen Bahn an Air Berlin und dem Hauptstadtflughafen die Finger verbrannte, ein eher pragmatisches Verhältnis zur Kunst pflegt, wurde bereits während seines Streits mit Meinhard von Gerkan deutlich, dem Architekten des Hauptbahnhofs. Um zur Fußball-WM 2006 rechtzeitig fertig zu sein, ließ er das Dach kürzen, die fertig produzierten und bezahlten Teile lagern nutzlos ein. Der Preis für vier Wochen Fußballfest war hoch, der Bahnhof macht seither und wohl noch auf Jahre hinaus einen verstümmelten Eindruck. Auch die spektakuläre Gewölbedecke im Untergeschoss wurde auf Mehdorns Weisung simplifiziert und verströmt jetzt den Charme eines besseren Hallenbads. Dafür insistierte der Ex-Bahnchef – während sich die Berliner in einer Umfrage mit 70 Prozent die Beibehaltung des historischen Namens „Lehrter Bahnhof“ ausgesprochen hatten – auf dem scheinprotzigen Allerweltsnamen „Hauptbahnhof“. Offenbar, ohne auch nur eine Sekunde die Provinzialisierung zu empfinden, die darin steckt: In vielen Metropolen haben sich historisch mehrere Bahnhöfe entwickelt. Was ist der Hauptbahnhof von Paris, Budapest, London, Moskau? Einen Hauptbahnhof haben Städte bis zu einer gewissen Größe: Kassel, Augsburg, Dessau und, okay, auch Hamburg – eine Liga, in der Berlin jetzt mitspielt. So gesehen ist die Aufstellung des „Rolling Horse“ schon wieder konsequent.

Was für eine Stadt entsteht da gerade?

Da schmerzt es nicht, das Gebäude eine Weile zu verlassen, für eine Quartiersbesichtigung. Ein Kunstwerk, auch Goertz’ Pferd, wirkt ja auch in dem Stadtraum, in den es eingebettet ist. Und die Flächen um den Hauptbahnhof erleben gerade eine, nun ja, galoppierende Entwicklung. Was ein normaler Vorgang ist, Bahnhöfe wurden nie im Zentrum, sondern meist außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern auf der grünen Wiese angelegt, die Stadt wuchs später auf sie zu. Auch in Berlin ist das jetzt so, der Bau des Hauptbahnhofs war die Initialzündung.

Aber was für eine Stadt entsteht da gerade? Ein Spaziergang durch die Heidestraße, nördlich vom „Rolling Horse“, liefert niederschmetterndere Erkenntnisse als der Anblick der Skulptur selbst. Überall der gleiche Trend: Es gibt keinen menschlichen Maßstab mehr, historische Parzellen sterben aus, jedes Gebäude geriert sich als Superstar und besetzt wie selbstverständlich einen ganzen Straßenblock. Sich zurücknehmen, sich den Raum mit mehreren Gebäuden teilen und einfügen in eine gemeinsame Straßenflucht? Was für eine Zumutung! Vergeblich sucht man Detailfreude, Vielfalt, Abwechslung fürs Auge. Die einzigen Augen, die hier strahlen, dürften die der Investoren sein, lassen sich doch große Flächen viel besser vermarkten.

Die Nachbarschaft des Berliner Hauptbahnhofs verursacht Fluchtimpulse

Das "Rolling Horse" von Jürgen Goertz auf der nördlichen Terrasse des Berliner Hauptbahnhofs am Europaplatz.
Das "Rolling Horse" von Jürgen Goertz auf der nördlichen Terrasse des Berliner Hauptbahnhofs am Europaplatz.

© Kai-Uwe Heinrich

In der Heidestraße sind Fassaden gerne mal 100 Meter lang. Aber kann man überhaupt von Fassaden sprechen, wenn einfach Glas vor tortenartig übereinandergeschichteten Etagen gehängt wird? Architektur wie löslicher Kaffee: Geht schnell und ist billig. Wobei die Bedeutung der Fassade auch überschätzt wird. Wichtiger sind die Erdgeschosse, denn hier entscheidet sich der Charakter einer Straße und damit einer ganzen Stadt. Wer nur mal fünf Minuten bewusst durch gründerzeitliche Viertel läuft, merkt: Überall sind Fenster, Türen, Zugänge, Gewerbe, Läden, Cafés.

Die Erdgeschosse ermöglichen einen lebendigen, nahezu osmotischen Austausch von Haus und öffentlichem Straßenraum. Rund um den Hauptbahnhof hingegen, wie in den meisten anderen Neubauquartieren in Berlin, sind die Erdgeschosse das Reich der Tiefgarageneinfahrten, Müllräume und Personaleingänge. Sie sind blind und tot, wie die Stadt, die auf diese Weise entsteht. Was Bauherren nicht daran hindert, ihre Projekte in schlimmstem Investorensprech zu bejubeln, natürlich auf Englisch. Aber wer immer sich den Begriff „Urban Benchmark“ ausgedacht hat, möge bitte sofort an die Tafel kommen und 100 000 Mal „Urban Benchmark“ schreiben.

Fressbuden und Ramschläden sorgen für etwas Menschlichkeit

In der Heidestraße 55-57 stehen wie vergessen noch einige Häuser aus der Vorkriegszeit, sie sind sogar bewohnt. Es sind solch unerwartete Gleichzeitigkeiten, die Berlin weiterhin spannend machen. Reste von Jugendstil-Kacheln in der Toreinfahrt, das Treppenhaus mit farbigem Glas geschmückt, man ist fast peinlich berührt. Grüße aus einer Zeit, in der Details noch eine Rolle spielten, weil sie das Wohnen insgesamt angenehmer machen.

Also nochmal zurück, vorbei am „Rolling Horse“, quer durch den Bahnhof, auf die Südseite. Hier hat sich eine spontane, pragmatische Lösung entwickelt für die zugige Ödnis des Washingtonplatzes: Die Veralexanderplatzisierung. Bierbänke, Fressbuden und Ramschläden, andernorts Auslöser für Kopfschmerzen, sind hier plötzlich hochwillkommen. Als Antidot und als das einzige Menschliche in einer Nachbarschaft aus gleichförmigen Büros und Hotels, aus zu Fassaden geronnenen Glas-Granit-Monstern, in der Jacques Tati seinen Film „Herrliche Zeiten“ eigentlich gleich noch einmal drehen könnte. In diesem Zusammenhang eine Ehrenrettung des oft gescholtenen Meininger Hotels: Ja, es ist hässlich, aber im Erdgeschoss ist Party, hier herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, mit anderen Worten: Es belebt den Stadtraum. Angesichts der Gebäude, die später rund um den Hauptbahnhof errichtet wurden, wünscht man sich noch mehr Meininger Hotels, auch dies ein unerwarteter Gedanke.

Ja, Bahnhöfe sind natürlich immer nur Transit-Orte. Aber die Nachbarschaft des Berliner Hauptbahnhofs verursacht besonderes starke Fluchtimpulse. Dafür wirkt das „Rolling Horse“ aus der Ferne plötzlich ganz klein. Ein Trost, immerhin.

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